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„In Bagdad ist die Zahl der Opfer unbekannt"

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FURCHE: Welche Vorbereitungen hatte das Internationale Rote Kreuz (IKRK) für den Golfkrieg getroffen?

JURG BISCHOFF: Bereits im Dezember haben wir Staaten, von denen wir annahmen, sie könnten an einem Konflikt beteiligt sein, an eine Respektierung des humanitären Völkerrechts der Genfer Konvention erinnert. Ihnen wurde ein Memorandum mit den wichtigsten Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung, zur Pflege der Verwundeten und Schiffbrüchigen übermittelt.

Dann unternahmen wir auch diplomatische Demarchen bei allen 164 Signatarstaaten der Genfer Konvention, um sie auf diese Verantwortung hinzuweisen. Diese Appelle, die übrigens alle sehr positiv aufgenommen wurden, hat dann unser Präsident Cornelio Sommaruga wenige Stunden nach Ausbruch der Kampfhandlungen erneuert. Wir haben auch die verschiedenen Kommandos der beteiligten Armeen ermahnt, die Bestimmungen zu respektieren.

FURCHE: Wie groß sind Ihre Hoffnungen, daß man auf diese Appelle Rücksicht nehmen wird?

BISCHOFF: Ich glaube, es gibt eine Bereitschaft der Staaten, darauf einzugehen. So hat zum Beispiel der Vertreter der USA bei den Vereinten Nationen öffentlich erklärt, sein Land würde sich an das humanitäre Völkerrecht halten. Auch der englische Verteidigungsminister hat eine Erklärung in diesem Sinn abgegeben. Wie das in der Realität bei den kämpfenden Truppen aussieht, ist schwierig voraus-

zusehen. Wir haben grundsätzlich das Gefühl, daß die Armeen auf der ganzen Welt zu wenig im humanitären Völkerrecht und im Kriegsrecht geschult worden sind.

FURCHE: Wie wird sich der Irak gegenüber diesen Appellen verhalten?

BISCHOFF: Es gibt natürlich gewisse Hinweise über das Verhalten des Iraks während des Krieges mit dem Iran. Und da hatten wir einen sehr weitgehenden Zugang zu den Kriegsgefangenen. Auf der anderen Seite gab es Giftgaseinsätze, was natürlich ein sehr schwerer Verstoß gegen das Völkerrecht und das Protokoll von 1925 ist.

FURCHE: Sie haben Delegierte in Bagdad. Haben Sie Nachrichten über die Zahl der Opfer?

BISCHOFF: Wir sind in Kontakt mit unserer Delegation in Bagdad. Aber die Zahl der Opfer, die gemessen an den ungeheuren militärischen Mitteln sehr hoch sein muß, ist uns nicht bekannt. Wir konnten weder mit den Spitälern Kontakt aufnehmen noch haben uns die irakischen Behörden etwas mitgeteilt.

Zur Zeit werden leider die rein militärischen, strategischen, taktischen Aspekte stark hervorgestrichen - und es besteht die Gefahr, daß man vergißt, daß dieser Krieg sehr viele Opfer fordern wird. Deshalb ist unsere volle Bereitschaft von großer Wichtigkeit.

FURCHE: Konnten Sie Ihre Arbeit in Bagdad schon aufnehmen?

BISCHOFF: Wegen des ständigen Bombardements können wir im Moment noch nichts unternehmen. Aber wir versuchen, in den näch-

sten Tagen, Krankenhäuser im Irak mit Medikamenten zu beliefern.

FURCHE: In Kuweit befindet sich kein Delegierter?

BISCHOFF: Nein. Wir haben seit 2. August darauf hingewiesen, daß dem IKRK völkerrechtlich der Zugang zu 'möglichen Opfern zu gewährleisten sei. Unser Präsident war selbst Ende August in Bagdad, um das Einverständnis deT irakischen Behörden zu einer Aktion zu bekommen. Das wurde uns aber bis heute verweigert.

FURCHE.Wo sind andere Delegationen in der Golfregion stationiert?

BISCHOFF: Im Mittleren Osten gibt es heute an die 100 Delegierte, im Iran, in Syrien, im Libanon, in Israel, in Jordanien, in Ägypten, in Saudiarabien und Bahrein. Diese Delegationen verfolgen besonders aufmerksam mögliche Flüchtlingsbewegungen. Wir haben in den letzten Tagen ein Team in den Süden Irans geschickt. In Genf warten ungefähr 50 Delegierte auf Abruf, die innerhalb weniger Stunden abreisen können. Auch die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften haben medizinische und logistische Teams zusammengestellt. Aber für konkrete Einsätze fehlen uns noch genauere Informationen. Demnächst sind Transportflüge mit Material in den Iran, nach Bahrein und nach Syrien unter Beteiligung der nationalen Gesellschaften geplant.

FURCHE: Wie sieht die Lage der Flüchtlinge aus dem Irak in Jordanien aus?

BISCHOFF: In Jordanien haben

wir Lager bereit, die 40.000 Menschen aufnehmen können. Es gibt ein erstes Transitcamp, das unmittelbar an der Grenze steht, das medizinische Erste Hilfe leisten kann und die Flüchtlinge mit dem Nötigsten versorgt und ihnen dann einen Platz in einem Lager im Landesinneren zuweist. Dieses System möchten wir in allen umliegenden Ländern beibehalten. Im Falle von Epidemien in diesen Lagern könnten wir sofort einschreiten.

FURCHE: Welche andere Vorkehrungen haben Sie getroffen?

BISCHOFF: Wir haben Material vorbereitet, um 300.000 Mensch3n aufnehmen zu können, das wir in so vielen Lagern wie nötig einsetzen werden. Wir werden versuchen, sobald wie möglich Krankenhäuser im Irak mit Medizin zu versorgen, um die Vorräte nachzufüllen.

FURCHE: Was geschieht bei einem Chemiewaffeneinsatz Iraks?

BISCHOFF: Um die Soldaten würden sich bei einem solchen furchtbaren Szenario primär die Sanitätsdienste der Armeen kümmern. Wir haben einige Ärzte im IKRK, die Erfahrung mit solchen Verletzungen haben und die Mediziner und Krankenhäuser bei der Behandlungsweise helfen und beraten und mit logistischer Unterstützung beistehen könnten.

FURCHE: Wie gestaltet sich die Koordination mit anderen Hilfsorganisationen?

BISCHOFF: Mit den Hilfsorganisationen des UNO-Systems finden hier in Genf ständig Sitzungen statt, bei denen man sich über Aktionen informiert. Aber auch in

den Einsatzgebieten hat sich eine gute Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Organisationen eingespielt. In den betroffenen Ländern sind die nationalen Rothalbmondgesellschaften, unsere Schwesterorganisationen, im Einsatz. Wir sind auf ihre Unterstützung angewiesen und die klappt auch.

FURCHE: Eigentlich könnte das Rote Kreuz und der Rote Halbmond Modell für Völkerverständigung sein.

BISCHOFF: Ja, denn auf der einen Seite gibt es eine Basis, die in allen 147 Ländern unabhängig arbeitet und auf die Bedürfnisse des Landes zugeschnitten ist. Dazu gibt es die zwei übergeordneten Organisationen, die Liga, die bei Naturkatastrophen zum Einsatz kommt, und das IKRK, das bei Kriegsfällen hilft.

Ich glaube, dies hat in dem Sinn Modellcharakter, in dem die Organisation zwar koordiniert, aber gleichzeitig den nationalen Gesellschaften ihre Autonomie und Unabhängigkeit beläßt, auf deren Kontakte wir sehr angewiesen sind. Diese Zusammenarbeit beruht auf Freiwilligkeit und Solidarität. Eines unserer Prinzipien ist die ideologische Unabhängigkeit der einzelnen Gesellschaften. Das ist natürlich ein Ideal, weil diese Unabhängigkeit in verschiedenen Ländern unterschiedlich interpretiert wird. Es gibt Länder, in denen autoritäre Regime die Unabhängigkeit einer Gesellschaft beeinträchtigen können.

Mit JURG BISCHOFF, dem Assistenten des IKRK-Präsidenten sprach FELIZITAS VON SCHÖNBORN.

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