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Samariter in einer unruhigen Welt

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1,500.000 Kinder und Frauen wurden während des Bürgerkrieges in Nigeria vor dem Hungertod gerettet. Diese Zahl präsentiert der letzte Jahresbericht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz IKRK). Vorher war es der Kongo, waren es der Yemen, Algerien, war es Ungarn — Kriege des 20. Jahrhunderts, bei denen immer auch die Interessen der Großmächte mit auf dem Spiel stehen. Wo aber gekämpft wird, ist auch das Rote Kreuz auf dem Plan. Das ist seit mehr als 100 Jahren so, wir haben uns daran gewöhnt.

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1,500.000 Kinder und Frauen wurden während des Bürgerkrieges in Nigeria vor dem Hungertod gerettet. Diese Zahl präsentiert der letzte Jahresbericht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz IKRK). Vorher war es der Kongo, waren es der Yemen, Algerien, war es Ungarn — Kriege des 20. Jahrhunderts, bei denen immer auch die Interessen der Großmächte mit auf dem Spiel stehen. Wo aber gekämpft wird, ist auch das Rote Kreuz auf dem Plan. Das ist seit mehr als 100 Jahren so, wir haben uns daran gewöhnt.

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Dabei ist es alles andere als selbstverständlich: Menschen geben gutbezahlte Posten auf, um Feuerwehrdienste in der ganzen Welt zu übernehmen. Ärzte sitzen jahrelang in sengender arabischer Sonne, Schwestern infizieren sich mit Tropenkrankheiten und Delegierte riskieren oft genug beim Verhandeln zwischen den Fronten ihr Leben. Die Welt hat es gerade erst wieder erlebt, als die Männer aus Genf nicht nur das ganze moralische Gewicht des Roten Kreuzes für die Geiseln in der Wüste aufboten, sondern auch höchst gefahrvolle Wege beschritten und am Ende statt Dankes weltweite Skepsis ernteten: die Freilassung der Attentäter war von ihnen verbürgt worden.

Eigentlich hatten die Delegierten aus Genf vom IKRK r— satzungsgemäß, wie alle Mitglieder des Komitees, Schweizer — deren Aufgabe die ständige Überwachung von Krisenherden in allen fünf Erdteilen ist, mit der Übernahme dieser Vermitt- lungsausgaben ihre Kompetenzen weit überschritten. Auf der sehr temperamentvollen Pressekonferenz in Genf gab das der Präsident des Rpten Kreuzes, Marcel Naville, jetzt auch unumwunden zu. Aber spätestens seit der Nigeriakrise haben die Männer mit einer neuen Kategorie von Konflikten zu tun: Sie sind innerstaatlich und habep doch internationalen Charakter. Sie sind örtlich beschränkt und verwickeln doch die Groß- und Supermächte. Das wiederum hat die Lähmung der UNO zur Folge — wegen des internen und zugleich internationalen oder besser multinationalen Charakters der Kon-flikte ist sie blockiert. Übrig bleibt als internationaler Kommunikationskanal das Rote Kreuz. Seine guten Dienste wurden, wie Präsident Naville betonte, von allen arabischen Kontrahenten respektiert. Die Stunde gebot, zu handeln und nicht die juristischen Folgeprobleme zu erörtern.

Inzwischen hat in Jordanien die „normale“ und historisch gewordene Hilfeleistung des IKRK in vollem Umfang eingesetzt: Verwundete werden von Ärzten und Schwestern betreut, Gefangene besucht, Briefe vermittelt und Vermißte aufgespürt. Allein dieser letzte Dienst — die strapazierte Vokabel drängt sich dem Genfer Besucher bei allen Funktionen des Roten Kreuzes in seinen zentralen Institutionen auf — würde die Existenz des IKRK rechtfertigen. Während des zweiten Weltkrieges beschäftigte die Zentralstelle für Kriegsgefangene nahezu 4000 Angestellte, darunter die Hälfte ehrenamtlich. Damals kamen täglich an die 3000 Briefe, und die Zahl der Anfragen und Auskünfte erreichte manchmal 18.000 pro Tag. Noch heute sind es über 40.000 Nachfragen, die jährlich erledigt werden, und Tausende von Familienbotschaften werden zwischen Ländern vermittelt, die keinen Postverkehr miteinander haben. 25 Jahre nach dem Ende des großen Krieges braucht die Welt die guten Dienste des Roten Kreuzes, um an den Folgen ihrer Konflikte nicht zu ersticken.

128 nationale Rotkreuzgesellschaften ermöglichen dem IKRK, seine Samariterfunktion in aller Welt zu erfüllen. Jede von ihnen muß sich verpflichten, die heute gültigen vier Genfer Abkommen vom August 1949 zu unterzeichnen: zum Schutz der Zivilpersonen in Kriegszeiten, über die Behandlung der Kriegsgefangenen sowie zur Verbesserung des Loses von Verwundeten und Kran-

ken der Streitkräfte zu Lande und auf der See. Leider wurde eine Anregung des IKRK in den dreißiger Jahren, auch die politischen Internierten in den Schutzbereich des Roten Kreuzes mit aufzunehmen, von der Mehrzahl der Nationalen Gesellschaften nicht gebilligt. Die Folgen waren verheerend: Die Konzentrationslager Hitlers durften ebensowenig besucht werden wie die Sträflingslager Sibiriens.

Die Internationalität des Genfer Komitees ist merkwürdig mit Nationalität gepaart. Ausschließlich Schweizer Bürger dürfen ihm satzungsgemäß seit seiner Gründung angehören, weil nur dieses Land seine gelobte „ewige Neutralität“ bisher glaubwürdig unter Beweis gestellt hat. Aber diese Begrenzung hat dem IKRK erst die weltweite Möglichkeit seines Wirkens erschlossen; seine Delegierten, Mitarbeiter und Helfer ergänzen aufs nötigste die Wirksamkeit der nationalen Gesellschaften, die in Konfliktfällen, ohne es zu wollen, leicht zur Partei werden. Ständig sind mehr als ein Dutzend Delegierte in allen Teilen der Welt unterwegs, beraten, helfen, koordinieren und mobilisieren, wo die eigenen Kräfte nicht ausreichen, nationale Gesellschaften.

Der Etat des Genfer Stabes nimmt sich bescheiden genug aus: 6 Millionen Franken. Die Weltgesundheitsorganisation, ein paar Häuser weiter, braucht das Zehnfache,, von der benachbarten UNO ganz zu schweigen. 180 Mitarbeiter bewältigen die enorme Arbeits- und Verantwortungslast, aber 200 Millionen tätige Einzelmitglieder in den angeschlossenen Gesellschaften geben diesem Kopf einen stattlichen Leib und sorgen finanziell dafür, daß in Krisenfällen der Genfer Stab noch immer über genügend Mittel für den Soforteinsatz verfügte. Allein die Schweizer Regierung steuert jährlich mehrere Millionen zu und bezahlt ihre Angestellten selbst.

Nur ein Ziel, so versichern alle Mitarbeiter in dem weitläufigen Genfer Haus, haben sie bisher noch nicht erreicht: sich selbst und ihre Arbeit überflüssig zu machen. Audi der Jahresbericht für 1970 wird wieder auf 100 Seiten die Tätigkeit des Roten Kreuzes ausweisen müssen, das sich in 13 Ländern als Roter Halbmond, und in einem, Persien, als Roter Löwe präsentiert.

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