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Völkerbunderbe in Genf

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Genf, im Juni.

Weiche Reste des Völkerbundes sind noch in Genf vorhanden, wie sieht seine Erbschaft, von hier betrachtet, aus?

Wenn ich, von meiner Schreibmaschine aufblickend, zum Fenster hinaussehe, breitet sich vor meinen täglich aufs neue erquickten Augen ein prächtiger öffentlicher Park aus, in dem verstreut einige Villen liegen. Zwei von ihnen kann ich von meinem Arbeitsplatz durch das üppige Grün uralter Bäume hinweg über sorgsam gepflegte Blumenbeete erspähen: die ehemalige Villa Bartho- loni und den gewesenen Wohnsitz Doktor Gustav Moyniers (1826 bis 1910). Das schlichte Spätbiedermeierhaus des Letztgenannten, eines Arztes, der an der Gründung des „Internationalen Komitees vom Roten Kreuz” maßgebend beteiligt war, beherbergte in der Zwischenkriegszeit die Büros dieser Weltorganisation. In seinen Kellern waren Tausende und aber Tausende von Dokumenten magaziniert, die das große Kriegselend der Zeit von 1914 bis 1918 festhielten. Nun sind bereits drei Jahre seit den Kampfbeendigungen von 1945 vergangen, aber niemand kam auf den Gedanken, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz wieder in sein idyllisches Heim zurückzuführen. Gewaltig thront oberhalb des leuchtend-weißen Riesengebäudes, das sich der Völkerbund im Arianapark errichtete, das frühere Hotel Carlton. Hier hat die Stadt Genf dem Roten Kreuz, der bedeutendsten internationalen Organisation, die beide Welt-, kriege überdauerte, ihr neues Stammquartier gegeben, das trotz seinem riesenhaften Ausmaße schon in unserer „Friedenszeit” nicht genügend Platz zu bieten vermag. Vor der Villa Moynier aber parken Autos mit den Kennzeichen der verschiedensten Nationen. Denn hier wurde ein Absteigquartier für Teilnehmer an internationalen Konferenzen im Hause der UNO geschaffen. „Teilnehmer an internationalen Konferenzen” überfluten unsere Stadt fast pausenlos in solchen Mengen, daß die Bereitstellung von Unterkunftsräumen eines der schwierigsten technischen Probleme bildet, das aber die hiesigen Behörden immer wieder kunstvoll lösen. So wurde auch die Villa des 1881 verstorbenen Eisenbahngründers Franz Bartholoni anläßlich der Schlußtagung der UNRRA zu einem „Notquartier”. Deren Chef, der inzwischen verstorbene ehemalige New-Yorker Bürgermeister La Guardia, wohnte in diesen mit pompejanischen Fresken aus der Zeit des Klassizismus geschmückten Räumen des Gebäudes, das von seinen breit hingelagerten Terrassen einen Blick über den See bis zur eisstrotzenden Gletscherwelt des Mont Blanc eröffnet.

„Wer zählt die Völker…”, kann Genf nun seit der Auflösung des Völkerbundes im April 1946 vielleicht mit noch mehr Fug und Recht fragen als vor 1939. Alle, die da meinten, die Niederlassung der neuen politischen Weltorganisation in den USA werde Genf aus dem internationalen Hochbetrieb der historischen Begebenheiten ausschalten, haben sich getäuscht. Statistiker behaupten, errechnet zu haben, daß 1947 mehr als 900 zwischenstaatliche Konferenzen hier am Sitze des europäischen Amtssitzes der UNO abgehalten wurden. Eine solche Zahl wurde auch in der Blütezeit des Völkerbundes nie annähernd erreicht. Sie zeugt von einer Betriebsamkeit, die weit über jene, die der Völkerbund einst entwickelte, hinausgeht. In den Wochen solcher Beratungen — wann wären keine? selbst Sonn- und Feiertage können nicht respektiert werden — stoßen sich in „drangvoll fürchterlicher” Enge die Teilnehmer in den Büros des Palastes. Nie fast sind genügend Arbeitsräume vorhanden, um allen gestellten Ansprüchen zu genügen. Das Sprachenbabel füllt Gänge und Säle, die Sitzungszimmer, bis in diesen die offiziellen Übersetzer zu Wort kommen, welche die Ausführungen der Referenten in die beiden Verhandlungssprachen: englisch, französisch verdolmetschen. Im sommerlichen Dachrestaurant, dessen Anlage vielleicht den Höhepunkt des UNO-Palais auch im übertragenen Sinne des Wortes darstellt, kann man dann als Österreicher mit einem kleinen Lächeln feststellen, daß zahlreiche Delegierte aus dem europäischen Osten sich zur gegenseitigen Verständigung des „Donau-Esperanto” bedienen, eines Deutsch, dessen Wiener Färbung nicht zu verkennen ist.

Mit dieser Schilderung heutiger Genfer Intemationalität, die von deren Ausmaßen nur eine schwache Vorstellung zu geben vermag, ist die Frage nach der Völkerbunderbschaft in Genf, von außen besehen, beantwortet. Solange dieser Völkerzustrom an der symbolhaft benannten Avenue de la Paix noch anhält, muß man also wohl Friedenshoffnungen hegen. Da man an die mit ernster Miene Kommenden und Gehenden denkt, könnte man eines Völkerbunderbes vergessen, des berühmten Pfaus, den, damals noch von seiner Familie umgeben, die Größen der „alten” Zeit bewundernd sein mäditiges buntschillerndes Rad schlagen sahen. In den Kriegsjahren war er zu einem Einsiedler geworden. Bekümmert schilderte ein alter Wächter die Einsamkeit von Monsieur Pfau. Nun haben ihm die neuen Herren eine Gefährtin zugesellt. Fassen wir dieses Ereignis als Zeichen für den Lebenswillen der UNO auf!

Wesentlich bescheidener als jetzt die UNO und einst der Völkerbund war, ist das „BIT”, das Internationale Arbeitsamt, untergebracht. Das gilt aber nur relativ, denn sein Genfer Sitz entspricht immerhin den Vorstellungen, die wir von dem repräsentativen Regierungsgebäude eines Staates hegen.

Die Auflösung des Völkerbundes hat für die Internationale Arbeitsorganisation eine einschneidende Änderung mit sieb gebracht. Sie wurde wesentlich selbständiger, als sie es vor 1946 war. Zwar ist sie noch immer ein Kind der politischen Weltorganisation, aber nun ein eigenberechtigtes, das von der Führung durch die Eltern weitgehend befreit wurde. Das drückt sich für unsere materielle Zeit am deutlichsten darin aus, daß die Arbeitsorganisation jetzt ein selbständiges Budget hat und ihre Beiträge direkt einhebt. Auch ihr Haus war während des Krieges fast völlig leer gestanden, ein Teil des Beamtenstabes führte die Geschäfte in Montreal. Ob der Hauptsitz in der Neuen Welt verbleiben wird, ist zum Unterschied von der UNO noch nicht endgültig festgelegt. Auch im Genfer BIT-Pa- lais herrscht heute ein Hochbetrieb, der dem der UNO sich anpaßt.

Der von den Genfern großzügig ausgebaute Flughafen von Cointrin sieht Tag für Tag Besucher aus Übersee für die UNO und das BIT landen und wieder aufsteigen. Demnächst beginnt in San Franzisko die Generalversammlung der Internationalen Arbeitsorganisation. Was bedeutet es schon hei den Verkehrsmitteln, die den westlichen Völkern zur Verfügung stehen, daß zahlreiche Funktionäre des BIT aus Genf den Kleinen Ausflug an die Gestade des Pazifik unternehmen müs;en? „Bis Stok- kerau geht’s, von da zieht sich der Weg nach Amerika”, sagte einst Nestroy. Heute ist es anders. Mein Brief würde die „Furche” wahrscheinlich rascher erreichen, wäre sie in der Stadt des Golden Gate zu Hause.

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