6776330-1969_24_01.jpg
Digital In Arbeit

Ein Papst in Genf

Werbung
Werbung
Werbung

Genf war und ist für viele Menschen bis heute die Stadt Calvins. Diese lebenslustige und luxuriöse Stadt wurde durch das Wirken Calvins eine Stadt, in der Spiel und Theater verboten waren, ja sogar das Lachen verpönt wurde, in deren schmucklosen Kirchen nüchterne Gottesdienste gefeiert wurden. Eine Stadt, in der eine harte Sittenzucht und enormer Arbeitsfleiß herrschten. Von hier aus strömte der Geist Calvins und seine Lehre von der unerbittlichen Prädestination — es sei dem Menschen vorherbestimmt, ob er selig oder verdammt werde — in die Welt hinaus und erfaßte viele Länder. Ohne den Geist Calvins wäre der Aufstieg Hollands, Englands und der Vereinigten Staaten undenkbar. Denn das einzige Zeichen, woran- der Mensch erkennen könne, ob Gott ihm gnädig sei oder nicht, so sagten die Calvinisten, sei darin zu sehen, ob ein Mensch im Leben Erfolg habe oder nicht. Und die Menschen Hollands, Englands und Amerikas suchten diesen schwachen Fingerzeig Gottes zu erhaschen, indem sie nach Erfolg jagten. Und bescherten ihren Ländern damit ungeahnten Reichtum. Genf ist das Bollwerk, des Calvinismus und eine Art heimliche Hauptstadt des Protestantismus. So lag es nur nahe, daß es in moderner Zeit der Sitz des Weltkirchenrates wurde. Dieser Weltkirchenrat, gegründet 1948, war zunächst eine Gesamtvertretung aller protestantischen Kirchen, denen sich auch die anglikanischen anschlössen, so daß Genf mit Recht den Namen eines „protestantischen Roms“ erhielt. Und die Zentrale des Weltkirchenrates als „protestantischer Vatikan“ bezeichnet wurde. Was wieder logischerweise in sich schloß, daß der Generalsekretär des Weltkirchenrates schließlich die Bezeichnung „protestantischer Papst“ erhielt. Aber der Weltkirchenrat ist insofern keine protestantische Weltkirche mehr, als vor einiger Zeit diesem Rat auch die orthodoxen Kirchen beitraten, so daß diesem Weltkirchenrat sämtliche Kirchen mit Ausnahme der katholischen angehören. Dieser Weltkirchenrat ist keine Überkirche, sondern eine brüderliche Gemeinschaft christlicher Kirchen, geboren aus der Sehnsucht nach der Einen Kirche und beschworen auf die Formel, daß Jesus Christus „Gott und Heiland“ sei.

Genf war aber auch der Sitz des Völkerbundes, jener Weltorganisation, die nach dem ersten Weltkrieg gegründet worden war, um Kriege für immer zu vermeiden. Diese Weltorganisation hatte kleine Erfolge und große Mißerfolge und brach schließlich unter den Schlägen der faschistischen Diktatoren zusammen. Aber als Erbe hatte dieser Völkerbund der Welt die Sehnsucht nach dem Frieden hinterlassen und nach der Schaffung einer Organisation, die für künftige Zeiten Kriege unmöglich macht. Und so war es denn nur logisch, daß Genf, die Hauptstadt des alten Völkerbundes, zur Hauptstadt des Europasitzes der neuen Vereinten Nationen auserkoren wurde, jener Organisation, die zwar Kriege bisher auch nicht verhindern konnte, aber sich doch als viel lebensfähiger und durchschlagskräftiger als der Völkerbund erweist. Und es war logisch, daß dieses internationale Genf auch zum Sitz des Internationalen Arbeitsamtes auserkoren wurde.

In dieses Genf fuhr Papst Paul VI. Es ist für jeden Papst nicht leicht, als Nachfolger eines profilierten Vorgängers einen eigenen Weg zu gehen. Es war für Johannes XXIII. als Nachfolger Pius' XII. nicht leicht, diesen eigenen Weg zu finden, und es war für Paul VI. nicht leicht, wiederum einen eigenen Weg auf Johannes XXIII. zu finden.

Das eine große Kennzeichen dieses Pontiflkates, von vielen oft nicht gesehen, ist sein starker sozialpolitischer Einschlag. Einen Wog, den der Papst in weitaus vehementerer Art einschlägt als alle seine Vorgänger vor ihm, so daß ihm von manchen seiner rechtsstehenden Kritiker und seinen linksstehenden Bewunderern nachgesagt wurde, er wolle Marx links überholen. Aber in einer Welt, in der zwei Drittel aller Kinder nie satt werden und die Hälfte aller Menschen nicht einmal das Existenzminimum erwirbt, kann der Erste der katholischen Christenheit nicht an dieser schreienden Not vorbeigehen und muß immer wieder zur Beseitigung dieser schreienden Not Wege aufzeigen. Das zweite Kennzeichen dieses Pontiflkates ist sein enormer Einsatz für den Frieden der Welt und für den Frieden zwischen den Völkern. Dies scheint zwar nicht eine wesentliche Aufgabe eines Pontiflkates zu sein. Aber eintreten für den Frieden heißt gleichzeitig eintreten für Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Denn jeder Schlag in das Antlitz eines Menschen ist ein Schlag in das Antlitz Christi. Und das dritte Kennzeichen des Pontiflkats ist sein ökumenischer Zug, geboren aus der Sehnsucht der Christenheit nach der einen Kirche. Hier auf diesem Gebiet aber findet der Papst unendlich viele Tabus auf beiden Seiten zu beseitigen, unendlich viel zerstörte Brücken wiederaufzubauen. Das große Mißtrauen, das seitens vieler Kirchen, der protestantischen, der anglikanischen, der orthodoxen, gegenüber der katholischen herrschte, zu beseitigen, war eine Leistung, die erst spätere Zeiten Paul VI. gutschreiben werden. War es schon schwierig, mit dem Ehrenoberhaupt der orthodoxen Kirchen, dem Patriarchen von Konstantinopel, zusammenzutreffen, und ebenso schwierig mit dem anglikanischen Primas von England, so schienen fast keine Brücken in die Stadt Calvins zu führen,

Als die böhmische Fürstin Thum und Taxis einst mit dem Dichter Rainer Maria Rilke zusammen die calvinische Kathedrale von Genf besuchte, sagte sie nach deren Verlassen zu dem mit ihr sehr befreundeten Dichter: „In diesem Eiskasten gibt es keinen Gott.“ Und Rilke, fern aller Kathölizität, aber noch behaftet mit dem Habitus einer katholischen Umwelt, stimmte der Fürstin zu, wie Jean Rudolphe de Salis, der weltberühmte Schweizer Historiker und Biograph von Rilkes Schweizer Jahren, authentisch berichtete. Ein Zeichen, wie verständnislos katholische und calvinische Welt einander gegenüberstanden.

Und in dieses calvinische Genf fuhr Paul VI, um zu beweisen, daß die Zeit der Mißverständnisse vorbei sei. So ist der kurze Aufenthalt des Papstes in der Stadt Calvins, dem Sitz des Weltkirchenrates, des Internationalen Arbeitsamtes, des Europasitzes der UNO, gleichsam ein Querschnitt durch die Mühen und Bemühungen dieses Pontiflkates.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung