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Besuch in Genf

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Der Stolz von Genf ist das riesige Reformationsdenkmal. Es ist sicherlich eindrucksvoll. Es will die Internationale des Calvinismus zeigen.

Eine Internationale aber, die eindrucksvoller ist und den Namen Genfs in die ganze Welt trägt, eine der segensreichsten Einrichtungen der Menschheit, hat ihren Sitz schräg gegenüber dem Reformationsdenkmal: das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Eines seiner Gebäude enthält einen Riesensaal mit unzähligen Kasten, in denen MilÜOy nen von Zetteln liegen. Jeder Zettel bedeutet einen Kriegsgefangenen! Von diesem Raum laufen die Fäden in die Kriegsgefangenenlager, von hier aus werden Millionen Von Familien über das Leben ihres Gatten und Vaters unterrichtet. Hier wirkt auch ein Österreicher, Freiherr von Haan, der in liebenswürdiger Weise meinen Führer machte. Die Aufgaben, die die Kriegsgefangenenstelle zu bewältigen hat, sind dreifach, so berichtet er uns. Zunächst gilt es, festzustellen, ob und wo der Kriegsgefangene lebt. Die Ergebnisse dieser Erkundung bewahren die riesigen Zettelkasten. Jede dem Übereinkommen angeschlossene Macht hat an diese Stelle die Listen ihrer Gefangenen zu senden. Hier werden gewaltige Karteien nach dem phonetischen Alphabet angelegt, das bei-spielsweise bei den Tausenden von Meiern nicht fragt, ob sie mit ai, ay, ei ey usw. geschrieben werden, sondern sie ohne Unterschied der Orthographie nur nach Vornamen und Geburtsdaten registriert. Kommt nun eine Anfrage aus der Heimat, so sucht diese den Karteizettel des Gefangenen. Das Zusammentreffen von Vornamen und Geburtsdatum bildet die „Concordance“. Ist eine solche Concordance erzielt, dann geht an die Familie die Verständigung, daß der Gefangene lebt, gesund ist, wenn möglich auch seine Adresse.

Die zweite Aufgabe der Kriegsgefangenenhilfe bildet die Erleichterung ihres Loses. Vom Internationalen Komitee aus werden die Lager besucht, werden Mißstände erhoben und durch Intervention bei den Regierungen womöglich abgestellt. Zur dritten Aufgabe endlich ist die Sendung von Liebesgaben geworden. Während des Krieges sind durch Vermittlung des Internationalen Roten Kreuzes sicher Eisenbahnladungen voll Nahrungsmitteln und Kleidungsstücken an die Gefangenen in allen Ländern gegangen.

Ein kleines Beispiel vom Umfang dieses Hilfswerkes. Als die Internationale Rote-Kreuz-Kommission in Wien eintraf, wurden ihr 9 9.000 Anfragen in fünf Kisten übergeben, die zum Teil noch der Erledigung harren. Der plötzliche Zusammenbruch der deutschen Wehrmacht ließ auch Hunderttausende von Österreichern in Kriegsgefangenschaft fallen, die zum großen Teil karteimäßig noch nicht aus der Zahl der deutschen Gefangenen aussortiert werden konnten. Zum großen Teil wurden ihre Namen gar nicht mehr nach Genf gemeldet, da sie entweder freigelassen wurden oder ihre Freilassung durch die verbündeten Mächte unmittelbar bevorsteht.

Auch jene österreichischen Familien, die von ihren Angehörigen, die in französischen, britischen oder amerikanischen Lagern sich befinden, noch keine Nachricht aus Genf erhalten haben, brauchen nicht zu verzagen, da Hoffnung besteht, , daß ihr vermißter Gatte, Vater oder Sohn rascher vor der Türe steht, als sein Zettel den Weg nach Genf und über Genf nach Österreich gefunden hat.

Daß das Internationale Komitee vom Roten Kreuz durch die Ereignisse des April und Mai 1945 vor Aufgaben gestellt wurde, die mit menschlichen Mitteln nicht mehr zu lösen sind, zum Teil sich auch durch die Freigabe der Kriegsgefangenen von selbst lösen, ändert nichts an der Größe eines Werkes, das solcherart in der Weltgeschichte noch nicht erstand. Gegenüber der Internationale der Zerstörung, wie sie sich in den beiden Kriegen über unseren Erdteil entluden, hat sich hier eine Internationale edler Menschlichkeit erhoben, die den Glauben an das Gute im Menschen predigt.

Genf besaß noch eine andere Internationale: den Völkerbund. Ein riesiger Palast, der allen Anforderungen entsprechen sollte, wurde ihm gebaut, heute stehen seine Hallen zum großen Teile leer. In einigen Flügeln des Baues herrscht noch immer Leben, so in der Hygienischen Abteilung, im Internationalen Arbeitsamt, in der Bibliothek, in der wieder ein Österreicher, Doktor B r e y c h a, mein Führer wird. Es wird hier mehr gearbeitet, als die große Weltöffentlichkeit erfährt; wertvolles statistisches Material wird hier gesammelt und manche Publikation von bleibendem Werte geben. Es überrascht, daß auch während des Krieges viel Quellenmaterial aus sämtlichen Ländern der Erde beschafft werden konnte, das ohne die Arbeit an dieser Stätte für immer verschüttet worden wäre. Zehn Stöcke füllt die Bibliothek. Hier findet man schlechterdings alles politische Material, das die Welt geben kann. Eine Reise nach Genf ersetzt Fahrten zu den politischen Büchereien aller fünf Erdteile. Wir machen den Versuch, die Protokolle einer sozialdemokratischen Parteikonferenz von 1895 in Österreich zu finden und haben sie ebenso rasch mit einem Griff wie die Verfassung von Neuseeland oder ein Handbuch über die Maharadschastaaten Indiens. Wenn diese Schätze aus Europa in einen andern Erdteil übertragen würden, wäre dies für Europa ein geistiger Verlust, der der Zerstörung manches Bauwerkes während des Krieges gleichzusetzen wäre.

Stundenlang kann man hier die hervorragenden Ergebnisse wissenschaftlicher Samm-lerarbeiten bewundern. Dann verläßt man den Bibliothekstrakt und geht wieder durch leere Flauen. Es ist wie ein Gang durch eine Gruft. Der Völkerbund ist tot, seine Erbin, „Die Vereinigten Nationen“, noch nicht geboren. Wird diesem posthumen Kind ein glücklicheres Leben beschieden sein als seinem Vater? Vor sechs Jahren noch kamen Abgesandte aller Länder nach Genf. Wir wissen noch nicht, wo sich die Vertreter der Vereinigten Nationen versammeln werden. Es sieht aber nicht so aus, als ob Europa noch einmal die Welthauptstadt stellen würde. Sinnfällig tritt hier die Absetzung Europas als Zentrum der Menschheitskultur in Erscheinung. Im ersten Weltkrieg hat unser Erdteil zwar unendlich gelitten, aber es schien doch das Ende durch die Schaffung des Völkerbundes in eine neue Menschheitsgemeinschaft zu führen. Im zweiten Weltkrieg ist Europa besiegt worden — als Gesamtheit besiegt. Die Geschicke der Menschheit werden in anderen Erdteilen entschieden werden, Sinnbild dafür, daß dem Völkerbund „Vereinigte Nationen“ irgendwo in Amerika folgen werden. Als die totalitären Regierungen mit dem Austritt aus dem Völkerbund das gemeinsame Band der zivilisierten Menschheit zerrissen, da ahnten sie wohl nicht, daß sie damit dem ganzen alten Erdteil eine Krone nahmen.

Ein grauer Novembertag jagte seinen Nebel über den Genfer See in die Stadt, als ich den gewaltigen Bau verließ, der dem Völkerbund Wohnung geben sollte, aber erst dann vollendet wurde, als die Räume überflüssig geworden waren. Wer soll künftig in diesen Hallen wohnen? Unter den vielen Vorschlägen erscheint der, hier ein Heim für Kriegsopfer aus allen europäischen, Nationen zu gründen, nicht nur a's der menschlichste, sondern auch als der, der die Geschichte des Genfer Völkerbundes am bezeichnendsten abschließt.

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