6653946-1959_18_08.jpg
Digital In Arbeit

Mausoleum des Friedens

Werbung
Werbung
Werbung

„A GENEVE ON N’ENTERRE PAS - on embaume.” In Genf wird man nicht begraben, sondern sorgfältig einbalsamiert. Als Edouard Herriot in den Couloirs des „Palais des Nations” in Genf mit diesen bitteren Worten das Resume der Abessinienkrise formulierte, war die Geschichte des Völkerbundes eine Aufeinanderfolge von Fehlschlägen gewesen. Heute freilich können wir uns das Urteil anmaßen, daß die lautere Absicht, nach dem Ende des ersten Weltkrieges durch einen Bund aller Völker den Frieden auf ewige Zeiten zu sichern, von Beginn an ein Versuch mit untauglichen Mitteln war. Die Staatsmänner, die sich damals in den Sitzungssälen in Genf versammelten, deuteten schon durch ihre Schnurrbärte, Kneifer und Zylinder unbewußt an, daß sie noch im neunzehnten Jahrhundert wurzelten. Die Sprache des internationalen Parketts war zu jener Zeit hoch immer vorwiegend das Französische, in dem sich ja Bonmots so treffend wie in keiner anderen Sprache formulieren lassen. Die „guten Worte” der Diplomaten wurden freilich immer bitterer, klangen immer häufiger nach Resignation, als die Abrüstungskonferenzen keine Resultate brachten, als eines Tages in der ersten Reihe des Versammlungssaales ein Delegierter namens Joseph Goebbels saß. Und mit dem eingangs zitierten Satz sprach Herriot die Grabrede des Völkerbundes.

Man könnte, nein, man sollte dieses Wort über dem Haupteingang des Palais des Nations einmeißeln. Der Vergleich scheint banal, aber er drängt sich auf: Wer zum ersten Male auf der Place des Nations steht und den riesigen Steinklotz vor Augen hat, der sich über den schwarzgrünen Nadelbäumen des Arianaparks türmt, erinnert sich der Abbildungen ägyptischer Königsgräber oder ähnlicher Bauten. Vier mächtige Pilaster teilen die breite Zufahrtsstraße in drei hohe, rechteckige Tore. Ernst, streng und abweisend wirkt diese Gliederung des Baues, der ein Relikt aus vergangenen Zeiten sehetntn die- ohne weiter ‘ nicht drei /Jahrzehnte, sondern drei Jahrtausende oder länger zurückliegen könnten.

Ob die Mitglieder der Jury das bevorstehende Fiasko des Völkerbundes geahnt haben, als sie aus den zehntausend Plänen und Zeichnungen, die als Ergebnis eines Preisausschreibens für die Architekten der Welt in Genf eingelangt waren, ausgerechnet die düstersten und am wenigsten freundlichen Entwürfe auswählten? Fünf Architekten aus fünf verschiedenen Ländern koordinierten die Pläne. Sie konnten dem Bund der Völker nur noch ein gigantisches Mausoleum erbauen. Als Kaiser Haile Selassie vor Menschen, die nicht mehr hören wollten, weil sie innerlich schon resigniert hatten, seine prophetische Rede hielt, in der er den Völkerbund zum Tode verurteilte, standen im Arianapark noch Gerüste. Erst 1937 wurde die große Versammlungshalle, die zweimal so viele Menschen faßt wie die Pariser Oper, vollendet. Die feierliche Eröffnung des gesamten Baues mußte wegen Ausbruchs eines Weltkrieges auf unbestimmte Zeit vertagt werden.

ENGLISCH MIT AMERIKANISCHEM AKZENT ist seit dem Ende des zweiten Weltkrieges die bevorzugte Sprache im Palais des Nations. Keine Sprache für Bonmots, aber ein Idiom der perfekten Organisation. Was dem Völkerbund nicht gelang, versuchen nun die United Nations auf mehr amerikanisch-bürokratische Weise. Sie haben sich in New York, der Hauptstadt der Technik, einen Wolkenkratzer aus Glas erbaut und das Palais über dem Lac Leman, nach dem Schloß von Versailles das größte Gebäude Europas, zu einer Nebenstelle ihrer gewaltigen Organisation degradiert. In den etwa tausend Zimmern des Riesenbaues sind nur einige Zweigorganisationen des gigantischen UN- Friedenserhaltungsbüros untergebracht. Die WHO, die Weltgesundheitsorganisation, hat hier ihren Sitz, der UN-Hochkommissär für das Flüchtlingswesen amtiert hier, und die EEC, die Economic Commission for Europe, fand im Palais ihr Heim. Es gibt ein Information Center, eine Tafel weist den Weg zum Sekretariat der Internationalen Rauschgiftbehörde, und ein Flügel beherbergt die ehemalige Bibliothek des Völkerbundes.

Die großen Säle und kleinen Konferenzräume, zwanzig an der Zahl, dienen seit 1945 für Konferenzen aller Art (Genf ist ja auch durch seine landschaftliche Lage und seine Nachtlokale zur Konferenzstadt prädestiniert). Am 11. Mai wird die Welt wieder nach Genf blicken, wenn die Außenminister der vier Großmächte in einem ‘ der Säle Zusammentreffen. Und auf der Avenue de la Paix und den anderen Straßen rund um den Arianapark werden wieder feldmarschmäßig adjustierte, stahlbehelmte Schwyzer Bürger Posten beziehen. Soldaten auf der Straße des Friedens — ein Symbol? Nein, nur eine dekorative Maßnahme. Die Schweiz weiß, was sie prominenten Gästen schuldig ist. Außerdem könnte es, obwohl das unwahrscheinlich ist, tatsächlich geschehen, daß irgendwelche Emigranten finstere Pläne hegen.

BIS ZU ZWANZIG VERSCHIEDENE AUSWEISE hängen in der Regel, und vor allem bei wichtigen Konferenzen, am Anschlagbrett in der Portierloge des Palais des Nations, Muster für den Torhüter und Charakteristikum der Abhängigkeit, in die sich der Mensch in der modernen Zivilisation begeben mußte. Und Symbol auch des Mißtrauens, das die Beziehungen zwischen den Völkern noch immer vergiftet.

Aber ohne Ausweise, Permits und Passierscheine vermeint auch eine demokratische Bürokratie vorerst noch nicht auszukommen, wer das Gefüge unserer Zivilisation akzeptiert, muß dies zur Kenntnis nehmen. In seiner bis zum letzten Radiergummi durchorganisierten Kompliziertheit fasziniert der bürokratische Apparat im Palais des Nations sogar, freilich auf unheimliche, fast bedrückende Weise. Es ist die gleiche Art von Faszination, die man Filmaufnahmen von Atombomben oder Raketen gegenüber empfindet.

10.206 Schlüssel verwahrt der Hausverwalter. Zwei Dutzend Lifts durchrasen die Stockwerke und verbinden endlos lange Gängr Žirnine, reiht sich an Zimmer. Zehn, zwanzig, vierzig, hundert Zimmer in einem einzigen Stockwerk eines einzigen Flügels. An die 2000 Angestellte sitzen in 820 Büros vor fast 2000 Schreibmaschinen. Die Aktenordner in den zahllosen Büroschränken hat noch niemand gezählt, und das Papier, das Tag für Tag verbraucht wird, für Berichte. Statistiken, Briefe, Untersuchungen, Zeitschriften, Broschüren, Prospekte, Drucksachen und hektographierte Nachrichten, würde wahrscheinlich mehr als einen Eisenbahnwaggon füllen. Viele Probleme der Welt sind in zehntausenden Aktenstücken niedergelegt, von den beruflichen Nöten der Flüchtlinge in der Baracke fünf des Valka-Lagers bei Nürnberg bis zur monatlichen Zahl der Syphilisinfektionen in Djakarta.

IN DER GROSSEN VERSAMMLUNGSHALLE wird die Luft alle zehn Minuten automatisch erneuert, die Temperatur durch Thermostaten ständig kontrolliert. In den Fächern von tausend Pulten liegen tausend Kopfhörer, und tausend Knöpfe lassen sich auf fünf verschiedene Sprachen einstellen. Ich nahm in diesem Saal an einer Vollversammlung der Weltgesundheitsorganisation teil. In der sterilen, desinfizierten Atmosphäre träufelten eintönig die Worte von den Lippen der Redner, übersetzt von den Simultandolmetschern. In diesen riesigen fensterlosen Raum, an dessen Decke künstliches Tageslicht indirekt ausgestrahlt wird, dringen die Probleme der Welt nur aus zweiter Hand auf dem Umweg über bedrucktes Papier gleich rein desinfiziert herein. Ein Delegierter las Zahlen über eine lokale Choleraepidemie in Indien vor. Aber wer von den Männern, die hinter den Namensschildern ihrer Länder saßen, war sich noch bewußt, daß sich hinter den nüchternen Ziffern Menschenschicksale bargen, von denen jedes einzelne Stoff einer Tragödie sein könnte? Einer saß vor mir, der malte Männchen an den Rand einer hektographierten Aussendung, zwei Bänke weiter rechts schlief ein anderer, den Kopf in die Hände gelegt.

„It is man, who is in danger — it is man, who must be saved!” Es ist der Mensch, der in Gefahr ist, es ist der Mensch, der gerettet werden muß! Dieser Satz steht in einem Brief, den der englische Bildhauer Gill am 27. Juni 1935 an Anthony Eden schrieb, und das Wort „man” malte er in Großbuchstaben auf das Briefpapier.

KAUM MERKBARER STAUB liegt nun über der Glasplatte der Vitrine, die diesen Brief birgt Sie steht im kleinen Museum, das der ehemaligen Bibliothek des Völkerbundes angeschlossen ist. Man zeigte uns hier das Sanierungsprotokoll mit der Unterschrift Seipels, einen Brief Einsteins zwischen bräunlichen Photos schnauzbärtiger Diplomaten im schwarzen Gehrock. Weil die Sonne schien, waren, um die Dokumente zu schützen, die Rolläden herabgelassen. Das elektrische Licht brannte. Die Beleuchtung gab dem Raum eine seltsame Atmosphäre, wie sie etwa im Gruftraum des Wiener Heldendenkmals ist, wo unter Glas die Bücher mit den Namen der Gefallenen liegen. Jemand aus der Besuchergruppe sagte plötzlich das banale, aber treffende Wort „Mausoleum des Friedens”. Tatsächlich lag da unter Glas und Rahmen ein Exemplar von Kants „Ewigem Frieden” …

Die Bibliothek, heute „Library” der UNO, ist im übrigen eine wirkliche Sehenswürdigkeit und eine Fundgrube für die Studenten der Genfer Universität. In zehn Stockwerken, davon fünf unterirdischen, sind über 450.000 Bände feuersicher untergebracht. Die Bücherei hat etwa 4000 Zeitungen und Zeitschriften abonniert. Die Autobiographensammlung ist eine der wertvollsten der Welt. Ein Glanzstück: die Bertha-von-Suttner-Sammlung, die 1931 von Wien hach Genf kam: die zwölf Tagebücher dieser großen Oesterreicherin, ihre Briefe und Manuskripte.

In einem Regal stehen vierundzwanzig Bände im Querformat. Sie enthalten die „Acten des Wiener Congresses”. Auch in den Memoiren Metternichs kann man blättern. Die Protokolle sämtlicher Sitzungen des österreichischen Nationalrats sind ebenso vorhanden wie die Verfassung Libyens oder der österreichische Rechnungshofbericht.

WIE OFT DAS KLEINE WORT „FRIEDE” in den Regalen zu finden sei, in wieviel Sprachen es hier gedruckt ist, weiß niemand zu sagen. Sicher einige hunderttausend Male. Bedeutende Friedensreden und Deklarationen befinden sich unter den vielen Tonnen bedruckten und gebundenen Papiers, Reden, die die Menschen der Welt wieder einmal Hoffnung schöpfen ließen. Aber nach einigen Jahren schon ist auch die Erklärung der Menschenrechte nur eine Katalognummer unter einer halben Million.

Kapelle oder Kirche befindet sich keine im Arianapark. Das einzige Kreuz, das man im „Palais des Nations” und seiner Umgebung sehen kann, ist das Kreuz des Südens auf dem großen bronzenen Himmelsglobus vor dem BibnOtheksflügel.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung