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Der Musikkritiker:

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Warum wir modern sind?

Weil seit etwa sieben Jahrhunderten mindestens einmal in jedem Säkulum (meist aber alle 30 Jahre) die Musik totgesagt oder ihr Ende prophezeit wurd — und weil sie trotzdem weiterlebt und immer neue Blüten treibt.

Weil die Argumente (Melodielosigkeit, Verfall der Form, „Häßlichkeit“) mit ermüdender Regelmäßigkeit wiederkehren und weil wir dieser Beweisführung mißtrauen.

Weil wir mit Vergnügen beobachten, daß gewisse Leute, die vor 30 Jahren bei bestimmten Musikstücken schimpfend den Konzertsaal verlassen hätten, sich heute die gleichen Werke mit Wohlgefallen, zumindest mit Respekt anhören und von „Klassikern der modernen Musik“ nicht nur sprechen, sondern auch schreiben. Daher nehmen wir Mißfallensäußerungen von dieser Seite, die sich auf die allerneuesten Werke beziehen, mit Ruhe zur Kenntnis.

Weil wir der Lieberzeugung sind, daß gegenwärtig mindestens fünf, sechs Komponisten unter uns leben, deren Namen in die Musikgeschichte eingehen werden.

Weil wir — auch für den Fall, daß diese Künstler keine „Genies“ sein sollten — die Auffassung vertreten, daß nicht nur Genies Daseinsberechtigung haben.

Weil wir von dem tiefen Ernst und dem ehrlichen , Streben vieler zeitgenössischer Komponisten überzeugt sind. Ihre saubere handwerkliche Gesinnung, das Zurückdrängen des eigenen kleinen Ichs und die dienende Haltung, die sie der Kunst gegenüber einnehmen, haben auch eine neue Blüte der religiösen Musik ermöglicht. Es gibt kaum einen modernen Komponisten von Format, in dessen Gesamtwerk die religiöse Musik nicht eine wichtige Rolle spielte (Strawinsky, Hindemith, Honegger, Mil-haud, Martin u. a.).

Weil die „Schwierigkeit“ vieler zeitgenössischer Musikwerke uns eher ein Argument für als gegen sie zu sein scheint. Denn das allzu

Gefällige, sich beim ersten Anhören restlos Erschließende, ist meist nicht gerade das Wertbeständige.

Weil wir, vor die Wahl zwischen Massenbelustigung und „Elfenbeinernen Turm“ gestellt, uns ohne Zögern für den letzteren entscheiden. Schon deshalb, weil man sich dort nicht gegenseitig auf die Füße tritt.

Weil wir, bei aller Verehrung für die Meisterwerke der Vergangenheit, der Ansicht sind, daß unsere Konzertsäle keine musikhistorischen Museen werden dürfen und weil wir uns der Meinung eines bekannten zeitgenössischen Meisters anschließen, daß eine Komposition nicht erst unbedingt 100 Jahre alt sein muß, um anerkannt und aufgeführt zu werden. „Warum ist allein die Kunst der Musik“, so fragt er, „zu diesem Geschmack an der Vergangenheit verdammt?“

Weil auf anderen Gebieten, etwa dem der Literatur und des Theaters, eine solche Stagnation, ein so ausschließlicher Vergangenheitskult, wie er in unseren Konzertsälen und Opernhäusern herrscht, undenkbar ist.

Weil man auf die Dauer den Meisterwerken der Vergangenheit einen besseren Dienst tut, wenn man sie vor Mißbrauch schützt, als indem man sie durch endloses Abspielen und ständige Wiederholung abnützt. Dieser Prozeß, durch Schallplatte und Rundfunk in unvorstellbarem Ausmaß beschleunigt und intensiviert, hat eben erst begonnen.

Weil die Gründe für die Vernachlässigung alles schwierigen Zeitgenössischen nur allzu leicht durchschaubar sind: die meisten Solisten und Dirigenten denken nur an ihren eigenen Erfolg. Ihre Technik und ihre „originelle Auffassung“ können sie an bekannten Paradestücken besser zur Geltung bringen als an komplizierten neuen Werken. Oft sind sie den letzteren weder geistig noch technisch gewachsen.

Weil wir dem Urteil von Leuten mißtrauen, die schon bei der Nennung eines klassischen Namens in Verzückung geraten, aber, sobald es sich um die Musik ihrer Zeit handelt, eine betrübliche Unkultur an den Tag legen, indem sie einen Alban Berg nicht von einem Lehär unterscheiden können oder, wenn sie ausnahmsweise einmal ganz ehrlich sind, sich für den letzteren entscheiden.

Weil unsere Achtung vor der Kunst zu groß ist, als daß wir sie als eine rein kulinarische Angelegenheit behandelt wissen wollen (zur Unterhaltung, zur Entspannung, zur „Erbauung“), und weil wir von ihr mehr erwarten t nämlich Spiegelung, Deutung und Sinngebung unseres Lebens.

Weil wir'schließlich an die unversieglichen schöpferischen Kräfte des Menschen glauben und für die düsteren Prognosen der Kulturpessimisten taub sind.

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