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Die „vierte literarische Gattung“

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DER DEUTSCHE ESSAY. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung. Von Ludwig Rohner. Hermann-Luchterhand-Verlag, Neuwied und. Berlin, 1908,

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DER DEUTSCHE ESSAY. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung. Von Ludwig Rohner. Hermann-Luchterhand-Verlag, Neuwied und. Berlin, 1908,

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Obwohl der Essay in der deutschen Literatur seit der Mitte des 19. Jahr-lunderts eine bedeutende Rolle spielt — wenn auch nicht in dem Ausmaß wie in der englischen und in der Eranzösischen —, war er doch lange Zeit eine Art Stiefkind der deutschen Literaturwissenschaft. Man lahm ihn nicht so ganz ernst, betrachtete ihn wie ein minder wichtiges Nebenprodukt des literarischen Schaffens. Seit ungefähr 1950 hat sich dies geändert, man erkannte, daß der Essay als eine besondere Kunstform seinen Platz neben der Dichtung hat. Hans Hennecke nannte ihn so-jar „die vierte literarische Gattung“. Es entstand eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen von Autoren wie Auerbach, H. Friedrich, Wittkower, Adorno, Just, Wiedholz und B. Berger, um nur einige Namen 5u nennen.

Der Schweizer Ludwig Rohner (geb. 1927) hat nun in einer sehr respektablen Forschungsarbeit die bisher umfangreichste Darstellung des deutschen Essays geschaffen. Sie ist zugleich eine Materialiensammlung, was die Lektüre nicht gerade srleichtert, aber den wissenschaftlichen Wert des Buches erhöht. Rohner behandelt sein schier grenzenloses Thema in vier großen Abschnitten, von denen jeder einzelne ein eigenes Buch füllen könnte.

Der bedeutende Essayist Josef Hof-milier stellte fest: „Was ein Essay ist, das ist nicht so leicht zu sagen. Leichter, was er nicht ist: nämlich ganz bestimmt kein Aufsatz und erst recht keine Abhandlung. Zu einem richtigen Essay müssen zwei Dinge zusammenkommen: ein interessanter Gegenstand und ein eigenartiger Kopf. Schließlich genügt der originelle Kopf allein.“

Im einführenden Teil behandelt Rohner die beiden „Erzväter“ des Essays, nämlich Montaigne und Bacon, die gleichsam zwei verschiedene Grundtypen des essayistischen Schaffens darstellen. Vorformen des Essays gibt es allerdings schon in der Antike und in der Renaissance. Frankreich ist zwar das Heimatland des Essays, aber England hat die Gattung, die durch das Zeitschriftenwesen begünstigt wurde, besonders gepflegt und international durchgesetzt. In Deutschland ging „die Sache dem Namen voraus“, wie Rohner schreibt, es gab essayistische Formen im 18. Jahrhundert, bei Lessing, Schiller, Goethe, später während der Romantik bei Novalis und Friedrich Schlegel. Der „erste Klassiker“ des deutschen Essays aber wurde im 19. Jahrhundert Herman Grimm, unter dem Einfluß des Amerikaners Emerson. Ihm folgten K. Hillebrand, O. Gildemeister, H. Homberger, F. X. Kraus, K. Frenzel und viele andere, bis zu den großen Essayisten der neueren Zeit wie etwa Thomas und Heinrich Mann, Rudolf Bor-chardt und Max Rychner. Mit der Essayfremdheit in Deutschland beschäftigt sich Rohner in einem eigenen Exkurs. Für diese werden verschiedene Gründe, vor allem soziologischer Natur, angeführt. Das „Mißtrauen gegenüber der eleganten Form“ wurzelt in nationalen Eigenschaften der Deutschen. — Der Phänomenologische Teil umfaßt aufschlußreiche Stiluntersuchungen essayistischer Texte von Georg Forster bis Max Kommereil und Ludwig Curtius. Der Theoretische Teil behandelt die besonderen Merkmale der Gattung, die Mentalität der Essayisten, die Traditionen, Themen und Titel, die Vielfalt der Inhalte und Formen. Der Essay ist kein freies Darauflosimprovisieren, er ist komponiert, hat eine bestimmte künstlerische Struktur. Er ist bewußt subjektiv, sein dialogischer Charakter tritt deutlich hervor. Er gedeiht am besten in der Atmosphäre der Freiheit und der kultivierten Geselligkeit. Der Essayist sei der „Prototyp des geselligen Schriftstellers“, meint Friedrich Schlegel. sAndreas Heusler spricht von der „weltmännischen Unbefangenheit“ Herman Grimms. Zur geistigen Haltung des Essayisten gehören Urbanität, Serenitas und Desinvolture. Selbstverständlich geht Rohner auch ausführlich auf die Unterscheidung des Essays vom Feuilleton (hier sind die Grenzen fließend), von der Abhandlung und vom Aphorismus ein. Sehr wichtig sind die Darlegungen über das Essayistische im Roman, wozu sich noch einiges sagen ließe. Als Ergebnis der vorangegangenen Untersuchungen unternimmt Rohner den Versuch einer „synthetischen Definition“ der Gattung. Der abschließende Dokumentarische Teil vereinigt in zweckmäßiger Gliederung zahlreiche Äußerungen von Essayisten über den Essay. Der umfangreiche Anhang enthält außer reichen Literaturhinweisen auch einen Bericht über den Forschungsstand und die Forschungsaufgaben.

Dieses ungemein gründliche, methodisch angelegte Werk Rohners ist das eindrucksvollste Ergebnis intensiver Studien. Über die einzelnen Bewertungen von Autoren läßt sich natürlich diskutieren. Es liegt im Wesen einer solchen Arbeit, die auch Materialiensammlung sein will, daß sie Zitaten größtmöglichen Raum gewährt. Der deutsche Essay wird von vielen Seiten aus betrachtet und man vermißt keinen wichtigen Aspekt. Das Buch gibt wertvolle Anregungen zu weiteren Spezialuntersuchungen, die noch zu leisten sind. Die literarische Domäne des Essays hat ja eine größere Ausdehnung, als man allgemein glaubt. Den Literarhistorikern wird Rohners Arbeit ausgezeichnete Dienste leisten und ihnen hoffentlich einen Anreiz zur Beschäftigung mit diesem interessanten Thema geben.

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