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Soll die Jugend heute noch die Klassikerlesen?

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Die Frage1: „Soll die Jugend heute noch die Klassiker lesen?“ möchte ich mit der Gegenfrage beantworten: Warum sollte die Jugend sie heute nicht mehr lesen? Die wirklichen Werte ändern sich nicht, auch der Mensch als solcher ändert sich nicht, zu ändern vermögen sich nur die äußeren Umstände seiher Existenz. Nun ist es richtig, daß diese in den letzten Jahrzehnten eirtem großen Wandel unterworfen waren, allein voh daher kann die Aufgabe der Bildung — und um eine Bildungsfrage geht es hier — nicht bestimmt werden. Bildung hängt weder von den äußeren Umständen ab, noch hat sie etwas mit Mode, Zeitgeist und Augenblicklichkeit zu schaffen. Sondern ihr geht es um den Menschen, um die Formung seiner Persönlichkeit und vor allem seiner Menschlichkeit. Nun besitzt unsere Zeit eine Neigung, die Fragen der beruflichen, technischen oder .ear sportlichen Ausbildung — also die der äußeren Existenz — denen der rein menschlichen voranzustellen, und von da her könnte man fast versucht sein, die Eingangsfrage dahin zu beantworten, daß gerade die heutige Jugend die Klassiker lesen solle. Denn was der gegenwärtigen Zeit fehlt, ist nicht technisches Können oder gut ausgebildeter Geschäfts- und Berufssinn, es mangelt auch nicht an tüchtigen Vertretern des Sportes. Was aber bekanntlich in oft geradezu erschreckender Weise fehlt, ist der menschlich empfindende und menschlich handelnde Mensch in seiner ungebrochenen Ganzheit und Allseitigkeit. Die Formung dieses Menschen aber kann nur sehr bedingt durch die Kräfte einer Zeit erfolgen, die sich weithin an die Pflege des bloßen Spezialistentums ausgeliefert hat. Uhd hier bieten sich uns nun die Klassiker an: bei ihnen finden wir noch das Ideal jener vollen, allseiligen Menschlichkeit, das uns selbst — und daher auch unserer gegenwärtigen Literatur — mehr und mehr zu entgleiten droht. Dabei müssen wir uns freilich das Vorurteil abgewöhnen, daß wir durch die Beschäftigung mit den Klassikern eine rückwärtsgewandte Haltung einnehmen. Wie etwa für den jungen Kaufmann die Berührung mit anderen Ländern, ja Erdteilen unerläßlich ist und ihn keineswegs der eigenen Heimat entfremdet, sondern nur seinen Blick über diese hinaus erweitert, so bedarf unser Geist des Blickes über die eigene Zeit hinaus, nicht um sich von dieser zu lösen, sondern um, wie Hermann Hesse sagt, „das Ohr zu gewinnen für die Weisheiten und Schönheiten, die durch alle Epochen der Kultur lebendig bleiben“. Mit einem Wort: es handelt sich nicht um die Aussagen einer vergangenen Dichtung, die uns nichts mehr angeht, sondern um die einer überzeitlichen. Als solche gehören sie uns ebenso zu eigen, wie sie unsern Vätern gehörten. Wie wir das physische Dasein von ihnen empfingen und lebenslang im Blut tragen, so können wir auch ihr geistiges Erbe nicht entbehren: kein Mensch und keine Zeit lebt nur aus sich selbst. Es käme einer todbringenden Verarmung gleich, wenn wir auf die Kraftquellen unseres überzeitlichen Erbes verzichteten — es kätne einem Verzicht auf“ den abendländischen Menschen gleich. Wenn wir heute aufgerufen sind, dessen Heimat zu verteidigen, so müssen wir uns darüber klar sein, daß jedes nur politische Mittel Von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, wenn wir die große geistige Linie unserer Gesamtkultur preisgeben. Nicht umsonst hat uns einer unserer großen Meister der Musik das ernste Wort hinterlassen: „Eine Generation, die ihr geistiges Erbe nicht ehrt, hat keine Zukunft.“

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