Grenze Österreich Oesterreich Migration.jpg - © APA / EXPA / JOHANN GRODER

Soziologe Verwiebe: „Ohne Zuwanderung wäre in Österreich Schluss"

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Die politische Rhetorik zum Thema Migration ist stark polarisiert - erst Recht in Wahlkampfzeiten. Doch Österreich sei längst auf Migrantinnen und Migranten angewiesen, betont der Potsdamer Soziologe Roland Verwiebe im FURCHE-Interview.

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Die politische Rhetorik zum Thema Migration ist stark polarisiert - erst Recht in Wahlkampfzeiten. Doch Österreich sei längst auf Migrantinnen und Migranten angewiesen, betont der Potsdamer Soziologe Roland Verwiebe im FURCHE-Interview.

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Die FURCHE: Beginnen wir mit einer grundsätzlichen Frage: Wie sehr ist Österreich mittlerweile von Einwanderung geprägt?

Roland Verwiebe: Sehr, vor allem mit Blick auf die vergangenen Jahre. Innerhalb von 15 Jahren hat der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich um rund eine Million zugenommen. Österreich ist also längst ein Einwanderungsland geworden. Und die Gesellschaft hat sich dadurch stark verändert: In Wien haben beispielsweise mittlerweile die Hälfte aller Menschen einen Migrationshintergrund. Es gibt kaum eine internationalere Stadt in Europa - am ehesten noch Paris oder London. Aber selbst die deutschen Großstädte sind nicht so international wie Wien. In anderen Bundesländern liegt der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund hingegen bei 15 bis 20 Prozent.

Roland Verwiebe Universität Potsdam - © Sandra Scholz

Roland Verwiebe

Der Soziologe Roland Verwiebe ist Professor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam. Von 2009 bis 2019 war er an der Universität Wien tätig. Migration ist seit vielen Jahren einer seiner Schwerpunkt-Themen.

Der Soziologe Roland Verwiebe ist Professor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam. Von 2009 bis 2019 war er an der Universität Wien tätig. Migration ist seit vielen Jahren einer seiner Schwerpunkt-Themen.

Die FURCHE: Die öffentliche Debatte über Migration wird in Österreich überwiegend negativ geführt. Wie realitätsnah oder -fern ist das angesichts der Fakten?

Verwiebe: Das Land muss sich dem Thema jedenfalls stellen. Dass nicht jede Partei im politischen Spektrum oder jeder Bürger diese Einwanderung sehr gut findet, ist legitim. Allerdings ist die Frage, ob man mit Fakten oder mit Desinformation und Hass arbeitet - bzw. ob man in der Politik vernünftige Zuwanderungsgesetze auf den Weg bringt. Österreich hat das mit der Rot-Weiß-Rot-Karte versucht. Die ist am Ende aber gescheitert. Die Menschen, die man damit erreichen wollte, kamen nicht. Das war aus meiner Perspektive der letzte große Versuch. Damals wurden die Sozialpartner stark eingebunden, ganz im Sinne des guten alten Österreichs: konsensorientiert und im Interessensausgleich. Jetzt sollte man daran anknüpfend überlegen, wie man strukturiert, geplant und sinnvoll mit Zuwanderung umgeht. Das ist das Gebot der Stunde. Politiker suggerieren oft, es gehe bei Migration nur um Asylsuchende. Die Menschen, die vor Verfolgung, Krieg und wirtschaftlicher Not fliehen, sind aber nur ein Teil der Menschen, die nach Österreich zuwandern. Das wird im politischen Diskurs verkürzt.

Es gibt Leute, denen es zu viel wird und die gerne Mauern hochziehen würden. Aber ich glaube, selbst die würden nicht wirklich in die 1980er Jahre zurückwollen.

Roland Verwiebe

Die FURCHE: Wer sind die anderen Zuwanderer?

Verwiebe: Der Großteil sind Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, die vielleicht nur für ein paar Jahre nach Salzburg, Tirol oder Wien umsiedeln, um zum Beispiel in der Hotellerie oder in den Krankenhäusern zu arbeiten. Oft gehen die nach einigen Jahren wieder nach Deutschland, Kroatien, Spanien oder Portugal zurück.

Die FURCHE: Kann man quantifizieren, welchen Beitrag Migrantinnen und Migranten für Österreich leisten?

Verwiebe: Sie leisten jedenfalls einen zentralen Beitrag. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass das Land seine Infrastruktur ohne Einwanderung aufrechterhalten könnte. Es wäre insofern ein großer Fehler, Zuwanderung "abdrehen" zu wollen. Ein paar Beispiele: Sie könnten kein Spital in Österreich ohne Einwanderung betreiben. Kein einziges. Sie könnten die Müllabfuhr nicht betreiben. Sie könnten den öffentlichen Nahverkehr nicht betreiben. Sie würden nicht genug Fahrer für die Taxifirmen finden. Die ÖBB könnten Sie nicht betreiben. Österreich braucht die Fachkräfte aus Italien, aus Portugal, aus Polen, aus Kroatien und ja, auch aus Syrien. Auch wenn sich Migration mitunter auch schwierig darstellt. Sie führt mitunter zu einer kulturellen Überforderung, die das Land für viele nicht mehr wiedererkennbar macht. Aber zugleich ist ohne die Zuwanderung Schluss. Es gibt Leute, denen es zu viel wird und die gerne Mauern hochziehen würden. Aber selbst die würden nicht wirklich in die 1980er Jahre zurückwollen. Der Beitrag von Menschen, die eine andere kulturelle Erfahrung haben, vielleicht auch eine andere Hautfarbe und eine andere Religion, zur österreichischen Volkswirtschaft ist immens. Es ist für Österreich auch eine enorme Ressource, denn diese Menschen sind in der Regel bereit, Jobs in Branchen mit geringer Brutto-Wertschöpfung zu übernehmen, wo also niedrige Löhne bezahlt werden.

Die FURCHE: Anerkannte Flüchtlinge sind keine Arbeitsmigranten, aber trotzdem leben sie hier. Wie könnte man sie dazu bringen, in Mangelberufe zu gehen?

Verwiebe: Hier ist aus meiner Perspektive ein pragmatischer Ansatz gefragt. Man muss diese Menschen bestmöglich in das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt integrieren. Und man sollte die Chancen sehen. Vor allem eben für jene Bereiche, in denen ein Mangel an einheimischen Arbeitskräften herrscht. Nicht nur Berufe im Bereich der Pflege, sondern auch Handwerksberufe haben ein großes Nachwuchsproblem.

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