6544747-1947_08_07.jpg
Digital In Arbeit

Die seelische Hygiene unserer Zeit

Werbung
Werbung
Werbung

Zwischen den beiden Weltkriegen entstand als neues wissenschaftliches Spezialgebiet die Psychohygiene, die ihren Ursprung hauptsächlich aus der Medizin, Psychologie und Soziologie nahm und sich nach | anfänglich vorwiegend ethischer Orientierung immer mehr zu einer praktischen Wissenschaft entwickelte. Freilich erscheint uns ihr Bestehen ohne Anschluß an die Hierarchie der Werte fraglich. Die Psychohygiene hat in der Schweiz und in Frankreich ihre besondere Pflege gefunden; in beiden Ländern bestehen nationale Gesellschaften für Psychohygiene, in Basel sogar ein1 Lehrstuhl, an dem Professor Heinrich Meng Vorlesungen hält. Die Psychohygiene ist einer Situation entsprungen, die durch die übergroßen leiblichen und seelischen Belastungen für den einzelnen Menschen durch Kriegs- und Nachkriegszeiten geschaffen worden ist, durch das materielle Elend und die durch solche Spannungen erfolgte Familienzerrüttung und Asozialität. Wenn solch Umstände schon an den seelisch Gesunden erhöhte Ansprüche stellen und seine Krankheitsbereitschaft anregen, so müssen sie erst recht beim geistig-seelisch Gefährdeten, beim labilen Menschen, schwere Folgen hervorrufen. Unter seelisch Labilen versteht der Arzt jene bedauernswerten Mitmenschen, die nicht gerade als geistigseelisch gesund, aber auch nicht direkt als krank bezeichnet werden können — Menschen, die an der Gesellschaft und an denen meistens die Gesellschaft leidet. Unter ihnen können sich wertvolle, geistig und ethisch hochstehende, künstlerisch begabte, schöpferische Menschen befinden —, der Großteil besteht aber aus asozialen, unproduktiven Elementen, die zum Beispiel als Mitläufer bei Massenbewegungen sehr unliebsam, ja geradezu gefährlich werden können. Es gibt eine besondere Psychologie der Masse und ihrer Führer. Hinreichende Kenntnisse dieser Art würden auch für breite Volksschichten klären helfen, wie es zu einem zweiter Weltkrieg kommen konnte.

So sichtbar die Tatsachen und die Begründung der seelischen Hygiene sind, so findet die junge Wissenschaft in der breiten Allgemeinheit und auch bei Wissenschaftlern noch nicht die verdiente Beachtung. Es mag dafür Mangel an genauer Kenntnis, vielleicht da und dort auch vorurteilshafte Ablehnung die Ursache sein. Es ist dies auffallend, wenn es ärztliche Urteile betrifft, da es eine heute medizinisch feststehende Tatsache ist, daß nicht wenige körperliche Erkrankungen irgendwie seelisch bedingt sind oder erst durch die verminderte Abwehrbereitschaft zum Ausbruch kommen konnten. Es ist erfreulich, daß Theologen Kontakt mit der Psychologie gesucht und daraus Wissen und Erkenntnisse um den seelisch gesunden und kranken Menschen gewonnen haben, die den Seelsorger befähigen, • in so manchen kritischen Fällen den Ratsuchenden an die richtige Stelle zu senden.

Wäre es etwa genügend bekannt, daß schon die frühkindliche Erziehung in bezug auf Sexualität entsprechend seelisch-hygienisch gestaltet werden muß, so würden die meisten der späteren seelischen Erkrankungen und körperlichen Defekte psychogener Art vermieden werden können.' Dasselbe gilt bei unzulänglicher seelisch-hygienischer Aufklärung für die Gefahr, aus akuten Erkrankungen chronische zu „machen“, weil die Flucht in die Krankheit vorläufig Genuß verspricht oder bequem erscheint und der Verantwortung enthebt. Nicht selten geschieht es, daß Eltern bei seelisch bedingten Leiten ihrer Kinder die Ursache dieser Störungen den Nachwirkungen der Kriegsereignisse zuschreiben, indessen die Erscheinungen in schlechten Erziehungsversuchen und ungesunden psychischen Einwirkungen ihre Wurzel haben.

Wirksame Psychohygiene setzt konkretes Fachwissen, wie zum Beispiel die gesicherte Kenntnis der Psychoanalyse, voraus. Vor dilettantischen Versuchen auf diesem' heiklen Gebiete sei ernstlich gewarnt, da sie die ärgsten Folgen nach sich ziehen könnten. Notwendig ist auch die Beurteilung der gegebenen wirtschaftlichen und ethisch-kulturellen Beschaffenheit des Lebensraumes, in dem der einzelne Mensch steht. Ernsthaftes histqrisches Material läßt erkennen, wie sehr materielle und geistige Krisen die allgemeine Widerstandskraft herabsetzen. Ia einer Zeit, wo Hunger, Elend und Arbeitslosigkeit vorherrschen, die alten Lebenswerte wanken und Selbstmorde an der Tagesordnung stehen, wird die Psychotherapie die Aufgabe haben, die Tragkraft, die Leidensfähigkeit des Menschen für aus der Norm fallende Zustände zu stärken.

Sie gehört in den Bereich des Arztes und den des Fachpsychologen, des Theologen, des Fürsorgers und Erziehers.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung