Ein Weckruf für die Chancengleichheit

19451960198020002020

Stellen Religionen wirtschaftliche, soziale, politische oder geschlechterspezifische Ungleichheiten infrage - oder verfestigen sie diese sogar?

19451960198020002020

Stellen Religionen wirtschaftliche, soziale, politische oder geschlechterspezifische Ungleichheiten infrage - oder verfestigen sie diese sogar?

Werbung
Werbung
Werbung

Der raue Ton, geblasen durch ein Widderhorn, hallt durch das Alpbacher Feuerwehrhaus. Er steht für Freiheit und Chancengleichheit, bestimmt der Rabbiner Walter Rothschild dem heurigen Motto des Europäischen Forums gemäß. "Wacht vom Schlaf auf, ihr Schläfer! Erwacht aus dem Tiefschlaf, ihr Eingeschlafenen!" zitiert er Maimonides, und damit ist diese interreligiöse Meditation, die jeden Tag während des Forums stattfindet, auch ein Weckruf.

Ton der Warnung und des Trostes

Der Schofar-Ton soll durch die Ohren in die Seele dringen. Er kann ein Ton der Warnung oder zum Trost sein, und er kann die Funktion von Kirchenglocken einnehmen. Die meisten jüdischen Gebote sind Anweisungen zu aktivem Handeln. In der Hierarchie ganz oben steht die Priorität Leben zu retten, fügt der Rabbiner hinzu. "Die große Ungleichheit ist heute, wenn so viele Menschen auf der Flucht sind, Ungleichheit zwischen jenen mit Heimat und denen ohne Heimat."

Der passive Befehl dem Ton des Schofars einfach zuzuhören, erfordert auch eine aktive Bemühung. Einfach nur dem simplen Ton zu lauschen, ist man gar nicht mehr gewohnt. Schwer kann man sich noch vorstellen, wie still früher die Welt war, die der Ton durchschnitt. Der Kontrast verliert sich durch Fahrzeuglärm und das digitale Rauschen der ständig gegenwärtigen Ablenkung durch diverse Geräte.

Der Weckruf mahnt zur Buße. Denn vor dem Neujahrstag im jüdischen Kalender, Rosch ha-Schana, findet der "Sommerschlussverkauf nach dem Motto 'alle Sünden müssen raus' statt", witzelt Rabbiner Rothschild. Es geht um Reflexion und Reue, und am Gerichtstag stehen alle gleich vor Gott. Ungleichheiten rund um die soziale Stellung, Beruf, Titel, Geschlecht etc. spielen dann keine Rolle.

Die begriffliche Einordnung von Ungleichheit ist komplexer geworden. Es geht nicht mehr nur um die wirtschaftliche Ungleichheit. Gender, Sexualität, politische Einstellung, religiöser Glaube und vieles mehr sind zusammenhängend. In der ersten Woche des Europäischen Forums Alpbach beleuchteten 16 Seminare das Generalthema "UnGleichheit" / "InEquality" auf den unterschiedlichsten Themenfeldern.

Stellen Religionen wirtschaftliche, soziale, politische oder geschlechterspezifische Ungleichheiten infrage - oder verfestigen sie diese sogar? Darüber sprachen Madawi Al-Rasheed und Marat Shterin in einem der Seminare. An den Beginn der Diskussion stellten die beiden Professoren vom King's College London die Behauptung: "Religion boomt. Sie ist zurück, manchmal aus gutem (Hinter-)Grund, manchmal mit negativem Ziel."

Wölfe und Schafe

Viele religiöse Bewegungen haben mit einem ehrvollen Ziel begonnen, aber können sie unsere sozialen Probleme (besser als säkulare Staaten) lösen? Der Religionssoziologe Marat Shterin versucht zunächst eine Annäherung über Karl Marx - Religion als das Opium des Volkes - und Max Webers Definition der charismatischen Herrschaft. Siddhartha Gautama, Jesus, Mohammed, Martin Luther, Guru Nanak Dev: all diese Menschen seien Revolutionäre im Kampf für Chancengleichheit gewesen. Die Vision dahinter ist der gemeinsame Nenner, an dem sich religiöse und säkulare Organisationen treffen. Der Papst - der Beamer wirft ein Bild von Papst Johannes Paul II. an die Wand - vereine traditionelle und charismatische Autorität. Die Entwicklungen, die er vorangetrieben hatte, waren durchaus auf säkularer Ebene.

Der Rabbiner Rothschild sieht in Religion einen möglichen Lösungsansatz für Ungleichheit, die naturgegeben sei. "Jedes Wolfsrudel hat ein dominantes Alphatier, andere haben nichts zu sagen. Wölfe fressen Schafe ohne davor zu reflektieren 'Ach, das Schaf wurde auch vom selben Schöpfer erschaffen'". Das Besinnen auf die Gemeinsamkeiten mit Mitmenschen, Respekt Schwachen gegenüber, das sei ein hilfreicher religiöser Aspekt. Religion sei in diesem Sinn ein Versuch, den Menschen zum universalistischen Denken zu bewegen: Wir entstammen alle der Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis. Während der Mensch immer mehr will, sollte die Religion Bescheidenheit als Korrektiv vermitteln. Nicht nur der Ton des Widderhorns sollte daran erinnern.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung