Gustavo Gutiérrez - © Foto: Alessandra Tarantino / AP / picturedesk.com

Gustavo Gutiérrez: Erlösung heißt Befreiung

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Die innere Verbindung von „Reich Gottes“ und menschlicher Befreiung auf neue, kreative und kritische Weise wahrzunehmen, war und ist das Anliegen der theologischen Überlegungen von Gustavo Gutiérrez.

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Die innere Verbindung von „Reich Gottes“ und menschlicher Befreiung auf neue, kreative und kritische Weise wahrzunehmen, war und ist das Anliegen der theologischen Überlegungen von Gustavo Gutiérrez.

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Gustavo wer? Für viele heutige Studierende der Theologie ist Gustavo Gutiérrez eine unbekannte Gestalt. Waren Diskussionen über die „Theologie der Befreiung“ etwa in der Studierendengeneration der 1980er Jahre noch selbstverständlich, sagen die Namen der „klassischen“ Vertreter der Befreiungstheologie (wie Leonardo Boff, Ignacio Ellacuría, Jon Sobrino und eben auch Gustavo Gutiérrez) kaum einem/einer jungen Studierenden heute noch etwas, und auch Gutiérrez’ Buch „Theologie der Befreiung“, das 1971 in Lima erschien, ist nahezu unbekannt.

Vor 50 Jahren jedoch wurde diese Publikation in der theologischen Debatte wie ein Paukenschlag wahrgenommen. Aus einem Vortrag des damals 40-jährigen peruanischen Theologen und Sozialwissenschafters Gutiérrez wenige Wochen vor Beginn der zweiten lateinamerikanischen Bischofsversammlung von Medellín (Kolumbien) entstand in gut zwei Jahren besagtes Werk „Theologie der Befreiung“, das theologisch und politisch den Nerv der Zeit traf.

Einige Jahre nach der Phase der (zumindest offiziellen) Entkolonialisierung in vielen afrikanischen Ländern, angesichts repressiver politischer Systeme in mehreren lateinamerikanischen Ländern, wenige Jahre nach Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils und kurz nach Veröffentlichung der Enzyklika Populorum progressio (1967) übte Gutiérrez in seinem Vortrag in Chimbote deutliche, um nicht zu sagen radikale Kritik am Konzept der „Entwicklung“.

Aus der Perspektive einer dependenztheoretischen Deutung, die die „Unterentwicklung“ der Länder des globalen Südens als Konsequenz der Ausbeutung durch die reichen Länder des Nordens ansah, plädierte Gutiérrez für ein Konzept der „Befreiung“ aus Armut, Ausgrenzung und Unterdrückung. In diesem Zusammenhang formulierte er zwei Thesen, die für das Buch, das aus diesem Vortrag hervorgehen sollte, von zentraler Bedeutung waren: zum einen die „feste Überzeugung, dass die Forderungen des Evangeliums in radikaler Unvereinbarkeit zu einer ungerechten und entfremdeten Gesellschaft stehen“, und zum anderen, dass zwischen der religiös erhofften Erlösung und der historisch und gesellschaftlich erkämpften Emanzipation und Befreiung des Menschen ein innerer Zusammenhang bestehe. Demnach liegen Heils- und Weltgeschichte nicht nebeneinander, sondern verbinden sich zu einer Geschichte, in der religiöse Praxis und politisches Handeln nicht schiedlich-friedlich getrennt werden können.

Theologisch, biblisch, spirituell

Die entscheidende Frage, die gleichsam den roten Faden für die „Theologie der Befreiung“ bildet, lautet: „Welche Beziehung besteht zwischen der Erlösung und dem Prozess der Befreiung des Menschen in Lauf der Geschichte? Oder schärfer formuliert: Was bedeutet im Licht des Evangeliums der Kampf gegen eine ungerechte Gesellschaft, das heißt die Schaffung eines neuen Menschen?“ Der Sinn dieser Frage erschließt sich von der Differenzierung dreier Ebenen von „Befreiung“ her: erstens Befreiung aus ökonomischer und sozialer Ungerechtigkeit und Unterdrückung im Sinn eines gesellschaftlichen Konflikts, zweitens Befreiung aus geistiger und kultureller Abhängigkeit im Sinn eines historischen und pädagogischen Prozesses und drittens Befreiung aus der Macht der Sünde im Sinn christlicher Glaubenspraxis.

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