Gerhard Kittel - © Illustration: Rainer Messerklinger

Judenhass in der Theologie: Gerhard Kittels fatales Erbe

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Angesichts des Gedenkens der Novemberpogrome müsste sich die Theologie endlich von einem bis heute tradierten Antijudaismus verabschieden. Leider tut sie das nicht.

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Angesichts des Gedenkens der Novemberpogrome müsste sich die Theologie endlich von einem bis heute tradierten Antijudaismus verabschieden. Leider tut sie das nicht.

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Für den Neutestamentsprofessor Gerhard Kittel, der auch in Wien gelehrt hat, waren die Juden das „Volk unter dem Fluch“. Als Theologe war er für den Nationalsozialismus von höchster Bedeutung. Seine Aufgabe war es, die Öffentlichkeit mit theologischen Argumenten von der Notwendigkeit der Nürnberger Rassengesetze zu überzeugen und damit kirchlichen Widerstand im Keim zu ersticken: Sein im Jahr 1933 veröffentlichtes Buch „Die Judenfrage“ erschien im Verlag Kohlhammer in einer Auflage von mehreren tausend Exemplaren. Die Erstauflage hatte 78 Seiten und wurde bereits Anfang Juli 1933 in österreichischen Zeitungen heftig kritisiert.

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Dass Gerhard Kittels Pamphlet „Die Judenfrage“ der Vorbereitung des Arierparagraphen diente, ist offenkundig.

Kittel behauptet in seiner Verteidigungsschrift aus dem Jahr 1946, dass „Die Judenfrage“ die nachträgliche Veröffentlichung eines von ihm am 1. Juni 1933 gehaltenen Vortrags gewesen sei. Mit dieser Behauptung wollte er seine Beteiligung an der Einführung der Rassengesetze nachträglich verschleiern, um rasch „entnazifiziert“ zu werden. In der wissenschaftlichen Diskussion schenkt man Kittel weiterhin Glauben.

Die erste Auflage begründet nun, warum es zwingend nötig sei, alle Juden aus dem öffentlichen Dienst auszuschließen – die dritte Auflage der „Judenfrage“ (aus dem Jahr 1934) lobt das nationalsozialistische Regime dafür, dass es eben diese Gesetze eingeführt hat. Weil die geänderte Gesetzeslage erst in nachfolgenden Auflagen berücksichtigt wurde, muss die erste Auflage bereits vor dem 7. April 1933 (Datum des sogenannten „Arierparagraphen“) in Druck gewesen sein.

„Die Judenfrage“

Gerhard Kittels Buch war also von langer Hand geplant. Er wusste mindestens bereits im Jahr 1932 – oder sogar noch früher –, dass derartige Gesetze von den Nazis geplant waren. Seinen Dienst für den Nationalsozialismus stellte er als religiöse Notwendigkeit dar: Das Neue Testament war ihm das „judenfeindlichste Buch der Erde“. Es ist nur konsequent, dass Gerhard Kittel noch im Jahr 1943 Adolf Hitler bei einem Vortrag in Wien öffentlich dafür lobte, dass dieser Juden wieder ins Getto verbannt habe. Bei der Judenverfolgung habe, so Kittel, die Kirche versagt, Adolf Hitler vollbringe, was eigentlich Aufgabe der Kirche gewesen wäre.

Damit entsteht der Eindruck eines gerissenen Taktikers. Lange vor seinem Eintritt in die NSDAP war Kittel offenkundig in die geplante Gesetzgebung eingeweiht und arbeitete an ihrer propagandistischen Begleitung. Am 1. Mai 1933, dem „Tag der nationalen Arbeit“, trat Kittel dann in die nationalsozialistische Partei ein.

Eine zentrale Rolle bei der öffentlichen Rechtfertigung der Judengesetzgebung spielte er auch nach dem „Anschluss“ Österreichs (11./12. März 1938). Der von 1939 bis 1943 an der Universität Wien wirkende Professor für Neues Testament stellte für zwei Propagandaausstellungen in Wien theologisches Material zusammen, das die Nürnberger Rassengesetze als sachlich gerechtfertigt darstellen sollte.

Während man seitens der Universität Salzburg im Jahr 2015 dem Nobelpreisträger Konrad Lorenz das Ehrendoktorat letztendlich vor allem dafür aberkannt hat, dass er sich bei seinem Eintrittsgesuch in die NSDAP, das auf den 28. Juni 1938 datiert ist, zu einem größeren Nazi machte, als er tatsächlich war, wird Gerhard Kittel noch heute in der wissenschaftlichen Forschung zu einem weitaus kleineren Nazi gemacht, als er tatsächlich gewesen ist. Dass sein Pamphlet „Die Judenfrage“ der Vorbereitung des Arierparagraphen diente, ist offenkundig. Es wäre geboten, hier nicht der Selbstdarstellung Kittels zu folgen, sondern Fakten sprechen zu lassen.

Das eigentliche Problem der Theologie mit Gerhard Kittel ist jedoch ein anderes: Kittel, Nationalsozialist der ersten Stunde, übt durch das von ihm herausgegebene „Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament“ noch heute eine kaum zu überschätzende Wirkung auf Übersetzungen des Neuen Testaments aus. Dieses Wörterbuch trägt dazu bei, dass zentrale Passagen des Neuen Testaments bis in moderne Übersetzungen weiterhin weitaus judenfeindlicher übertragen werden, als dies vom griechischen Text her geboten wäre.

Gegen die griechische Grammatik wird beispielsweise in der revidierten Einheitsübersetzung ein Fluch Gottes über sein eigenes Volk in den Text getragen. Gott selbst, so hat man bei der Lektüre den Eindruck, verstößt sein Volk. Der Prophet Jesaja wird im Johannesevangelium zitiert (Joh 12,40/ Einheitsübersetzung 2016): „Er hat ihre Augen blind gemacht und ihr Herz hart, damit sie mit ihren Augen nicht sehen und mit ihrem Herzen nicht zur Einsicht kommen, damit sie sich nicht bekehren und ich sie nicht heile.“

Der Prophet Jesaja hatte von ca. 740 bis 701 v. Chr. gewirkt. Zur Zeit Jesu, ein knappes Jahrtausend später, verehrte das jüdische Volk noch immer im Jerusalemer Tempel den Gott Israels und las auch den Propheten Jesaja. Seine Prophezeiung wurde damit nicht als Verfluchung des Gottesvolkes verstanden. Das trifft auch auf die vorchristliche griechische Übersetzung des Jesaja-Zitates im Neuen Testament zu. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht wäre daher zwingend so zu übersetzen: „Er hat ihre Augen blind gemacht und ihr Herz hart, sodass sie mit ihren Augen nicht sehen und mit ihrem Herzen nicht zur Einsicht kommen und sie sich nicht bekehren. Und ich werde sie heilen.“ Jesu irdisches Wirken scheiterte am Kreuz, und der Verfasser des Evangeliums zitiert ein Prophetenwort, um diese Situation zu deuten und Gottes Heilswillen zum Ausdruck zu bringen.

Herausgeber eines „Standardwerks“

Im letzten Satz findet sich keine Verneinung. Auch ist er nicht Teil des vorangehenden Nebensatzes. So hat man allerdings den Text in der lateinischen Übersetzung verstanden, die wiederum die Lutherbibel beeinflusst hat. Drei Artikel im Wörterbuch, das Kittel herausgab, behaupten, dass Gott selbst in diesem Wort des Propheten Jesaja sein eigenes Volk verwerfe. Den Unterschied zwischen der Formulierung der Einheitsübersetzung 2016 („damit […] ich sie nicht heile“) und einer sprachwissenschaftlich begründeten Übersetzung („ich werde sie heilen“) muss man eigentlich nicht erklären. Es ist ein konsequenter Rückgriff auf den griechischen Text, dass die neuesten Nachdrucke der 2017 revidierten Lutherbibel hier in einer nachträglich eingefügten Fußnote darauf hinweisen, dass eine andere Übersetzung sprachwissenschaftlich möglich ist. Es steht zu hoffen, dass andere Übersetzungen diesem Vorbild folgen.

Die Aufarbeitung des Wirkens des Nationalsozialisten Gerhard Kittel und eine Analyse des von ihm herausgegebenen judenfeindlichen Wörterbuches wäre dringend nötig und heilsam. Dank der Wirkungsgeschichte sollte ein Wörterbuch aus dem Umfeld des Nationalsozialismus heute nicht als Standard gelten. Leider wurde dieses Wörterbuch im Jahr 2019 unverändert nachgedruckt und gilt als „Standardwerk“.

Der Autor lehrt als Privatdozent an der Universität Wien und leitet ein Forschungsprojekt des FWF an der Kirchlich-Pädagogischen Hochschule (KPH) Wien/Krems.

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