Lust - © iStock/timurka (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)

Katholische Sexualmoral: Diese Kirche kann sich doch bewegen!

19451960198020002020

Der ins Visier des Vatikans geratene Südtiroler Moraltheologe Martin M. Lintner tritt engagiert für eine erneuerte Sexualmoral ein. Sein Opus magnum „Christliche Beziehungsethik“ zeigt die Wege dazu auf.

19451960198020002020

Der ins Visier des Vatikans geratene Südtiroler Moraltheologe Martin M. Lintner tritt engagiert für eine erneuerte Sexualmoral ein. Sein Opus magnum „Christliche Beziehungsethik“ zeigt die Wege dazu auf.

Werbung
Werbung
Werbung

Von unerwarteter Seite wird einem manchmal Aufmerksamkeit zuteil, dann schleicht sie leise um die Ecke. Die Zeit, da sich bestimmte theologische Lehrstühle als Schleudersitze erwiesen, schien zwar passé zu sein. Aber das „Sommertheater“ von Brixen – wie eine Real­satire wirkend – erzählte eine andere Geschichte. Die beste Werbung für dieses Buch verdanken Autor und Verlag deswegen dem Vatikan – der mit der Verweigerung der Bestätigung der Wahl des Moraltheologen Martin M. Lintner zum Dekan der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen weit über Südtirol hi­naus für Aufsehen sorgte.

Navigator - © Die Furche

Liebe Leserin, lieber Leser,

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

Man erinnert sich: Im Juni wurde bekannt, dass die bereits Monate zuvor erfolgte, von Bischof Ivo Muser bestätigte Wahl vom Dikasterium für die Kultur und die Bildung beeinsprucht wurde. Ein negatives Gutachten des Dikasteriums für die Glaubenslehre führte zur Verweigerung des ­„Nihil obstat“. Weil das grüne Licht aus Rom ausblieb, konnte Lintner das Amt nicht antreten, der bisherige Dekan, der Pastoraltheologe Alexander Notdurfter, führt die Geschäfte deswegen kommissarisch weiter. Kompromittiert sehen musste sich nicht nur die Hochschule, sondern auch der Bischof von Bozen-Brixen.

Eine breite Debatte

Ganz abgesehen von Lintner selbst. Er wunderte sich: lehren ja (seine Professur war von der Maßnahme ausdrücklich nicht betroffen), leiten und repräsentieren nein. Seit 1993 Mitglied des Servitenordens, durfte sich der Vatikan über Solidaritätsbekundungen für den Südtiroler des Jahrgangs 1972 nicht wundern. Lintner war Präsident der Europäischen Gesellschaft für katholische Theologie, er gehört der Internationalen Vereinigung für Moraltheologie und Sozialethik an und ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft für Moraltheologie und der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik. Ein Spezialgebiet ist seine Tierethik.

Seine Bücher „Den Eros entgiften. Plädoyer für eine tragfähige Sexualmoral und Beziehungsethik“ von 2011 und „Von Humanae vitae zu Amoris laetitia. Die Geschichte einer umstrittenen Lehre“ von 2018, beide bei ­Tyrolia erschienen, wurden zu seiner akademischen Visitenkarte. Ob das vatikanische Nein damit zusammenhängt, ist bis heute unklar. Das Gute an der Causa ist, dass eine breite Debatte ins Rollen kam: „Das Nihil-obstat-Verfahren“, so Lintner in einer Stellungnahme, „gehört reformiert, transparent und fair gestaltet.“

Neuauflagen der genannten Bücher würden sich wohl verkaufen wie warme Semmeln. Sie sind aber nicht mehr up to date. Und auch nicht nötig, weil Lintner jetzt eine 684 Seiten starke Monografie vorlegt: „Christliche Beziehungsethik“. Das Buch bringt im Anhang zudem eine kritische Würdigung des auf dem Synodalen Weg in Deutschland durchgefallenen Grundtextes des Synodalforums IV „Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft“.

Postum ist im Jahr 2021 von Eberhard Schockenhoff (1953–2020) „Die Kunst zu lieben. Unterwegs zu einer neuen Sexualethik“ erschienen, von Lintner im Vorwort als „unverzichtbares und richtungsweisendes Referenzwerk“ bezeichnet . Sein im selben Verlag erschienenes Werk steht ebenbürtig daneben.

Studierende werden daran ebenso wenig vorbeikommen wie Kolleginnen und Kollegen. Lintners erklärte Absicht ist es, mit seinem Fachbuch „einen moraltheologischen Beitrag zu leisten für die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche und für eine Erneuerung der katholischen Sexualmoral“.

Mit den beiden Familiensynoden 2014/15 und dem Nachsynodalen Schreiben Amoris laetitia von 2016 habe Papst Franziskus „neue Perspektiven eröffnet“: Katholische Lehre kennt Entwicklung, sie ist nicht starr – und auch nicht unveränderlich. Lintner will einen „Beitrag zur nötigen Erneuerung der christlichen Sexualmoral und Beziehungsethik“ leisten. Darüber hinaus versteht er sein Buch als „eine Einladung an das Lehramt der katholischen Kirche zum Dialog über Themen, die in der Vergangenheit oft zu Spannungen zwischen Moraltheologie und Lehramt geführt haben“. Wohlgemerkt: Es ist eine Einladung zum Dialog, Lintner wirft dem Vatikan keinen Fehdehandschuh hin.

Eine positive Rezeption der Lehren von Paul VI. und Johannes Paul II., so Lintners Wahrnehmung, blieb durch die Engführung auf Empfängnisverhütung, den Ausschluss wiederverheirateter Geschiedener von der Kommunion, die negative Beurteilung von vor- und nichtehelichen Partnerschaften und andere „Reiz­themen“ „belastet“ und habe „zu gemeinhin bekannten Konflikten geführt“. Auch diese Bemerkung ist nicht neu, erklärt aber vieles: „Die Lehre der Kirche und die Lebensführung von vielen Gläubigen sind auseinandergedriftet –mit weitreichenden Folgen bis hin zum Verlust von Glaubwürdigkeit und Relevanz der kirchlichen Sexuallehre in den Augen vieler Menschen.“

Differenziert hinschauen

Wer sich ins Buch vertieft, merkt schnell: Dieser Moraltheologe steht voll und ganz auf dem Boden der kirchlichen Lehre – die freilich, was manche stur verneinen, in Bewegung ist. Nicht jede nur denkbare Situation, nicht jede menschliche Frage, das richtete Franziskus auch neulich konservativen Kardinälen aus, lässt sich mit Ja oder Nein beantworten. Wer Menschen gerecht werden will, muss differenziert hinschauen und argumentieren. Das tut Lintner Seite für Seite.

Im ersten Teil (S. 31–237) schildert er die Entwicklung der kirchlichen Ehelehre – ein Parforceritt von der Antike bis zu Papst Franziskus, der den Paradigmenwechsel des Zweiten Vatikanums „hin zu einem personalen Verständnis von Ehe in einen kohärenten Gesamtzusammenhang integriert sowie die nötigen wie logischen Konsequenzen in Bezug auf die Pastoral und auf die disziplinären Maßnahmen der Kirche“ gezogen habe. Was dessen „ambivalente Haltung zur Homosexualität“ angeht, beobachtet Lintner: „Franziskus ändert die kirchliche Lehre zur Homosexualität nicht, dennoch lässt sich bei ihm eine Haltungsänderung beobachten. Er vermeidet eine negative, von Stereotypen geprägte Sicht und Redeweise.“ Genügt Empathie? Immerhin hält die Debatte um kirchliche Segnungsfeiern an. Zugespitzt hat sich in diesem Pontifikat auch die lehramtliche Konfrontation mit den Gender-Studies. Teil zwei (S.242–427) beleuchtet die biblischen Grundlagen, Teil drei (S.431–603) versammelt systematische Aspekte einer erneuerten Ethik der Sexualität und der Beziehung.

Lintner plädiert für den Weg von einer Verbots- und Gebotsmoral zur ‚Befähigungsmoral‘ – deswegen auch ­‚Beziehungsethik‘ statt Sexualmoral.

Achtsamkeit und Vulnerabilität, sittliche Autonomie, Primat der Liebe – das sind nur einige Stichwörter, die man in früheren Jahrzehnten so nicht wahrnehmen konnte oder wertgeschätzt sah. Es ist der Weg von einer Verbots- und Gebotsmoral zu einer „Befähigungsmoral“ – deswegen auch „Beziehungsethik“ statt Sexualmoral. Beziehung: ein menschlicher „Sehnsuchtsort“! Lintner wartet auch mit einem konkreten Vorschlag auf. Er plädiert dafür, „das kirchenrechtliche Junktim zwischen Ehevertrag unter Getauften und Sakrament zu lösen und die Lehre des matrimonium ratum et consumatum weiterzuentwickeln im Sinne von matrimonium ratum et benedictum“. Wie wird die Fachwelt darauf reagieren? Und Rom?

Um Abbau von Ressentiments

Hilfreich ist der Nachtrag (604–615): Lintners Kommentar zu dem an der Sperrminorität von Bischöfen auf dem Synodalen Weg (nach hochemotionalen Debatten) durchgefallenen, oben erwähnten Grundtext. 82 Prozent der Synodalen hatten ihn angenommen, darunter 60 Prozent der Bischöfe. Mithin hat, wie Lintner zu Recht sagt, „eine deutliche Mehrheit der Bischöfe den Text mitgetragen und unterstützt“. In einer Fußnote fragt er: „Liegt die Bringschuld für die nötige Zweidrittelmehrheit auf Seiten jener, die Reformen und Weiterentwicklungen befürworten, oder auf Seiten jener, die sie ablehnen?“ Lintner geht auf Argumente ein, die zur definitiven Ablehnung geführt haben. Mit seinem Kollegen Andreas Lob-Hüdepohl (Mitglied des deutschen Ethikrats) betont er, dass es „um den Anschluss an wichtige Erkenntnisse der Humanwissenschaften und um den Abbau von Ressentiments gegenüber queeren Menschen“ geht. Dabei verweist er auf ein Dokument der Australischen Bischofskonferenz von 2022 („Created and Loved“), das weit über deutschsprachige und europäische Debatten hinausgeht.

Anfragen an die traditionelle Lehre lassen sich heutzutage nicht mehr disziplinär unterdrücken. Debatten verstummen nicht, auch wenn sie lehramtlich abgewürgt werden sollen. Auf Theologie kann die Kirche nicht verzichten. Gute (Moral-)Theologie muss argumentativ belastbar sein – das beweist Lintner. Wer das letzte Konzil, das den Menschen und nicht nur Prinzipien in den Mittelpunkt rückte, verstanden hat und konsequent weiterdenkt, lässt sich nicht ­einschüchtern. Lintners allererster Satz in diesem Buch bringt es auf den Punkt: „Die katholische Sexual­moral ist in Bewegung.“

Der Autor ist Theologe, Publizist und Seelsorger in München.

christliche-beziehungsethik Cover - © Herder
© Herder
Buch

Christliche Beziehungsethik

Von Martin M. Lintner
Herder 2023
684 S., geb.,
€ 61,50

Navigator - © Die Furche

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf mehr als 175.000 Artikel seit 1945 – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf mehr als 175.000 Artikel seit 1945 – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung