Kleines Haus, großes POTENZIAL

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Vom urbanen Holzhaus auf Rädern bis zu Gesundheitsrisiken durch Billigdomizile: Die Politik braucht Antworten auf die Wohnungsfrage.

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Vom urbanen Holzhaus auf Rädern bis zu Gesundheitsrisiken durch Billigdomizile: Die Politik braucht Antworten auf die Wohnungsfrage.

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"Wiener Innenstadt: Haus für 100 Euro im Monat zu mieten" - die Anzeige im Immobilienteil schien wohl zu gut, um wahr zu sein. Um 100 Euro im Monat kann man heutzutage noch nicht einmal ein WG-Zimmer in den Außenbezirken mieten, geschweige denn ein Haus inklusive Strom, Heizung und Internet. Zu gut, um wahr zu sein? Nicht, wenn es nach dem deutschen Architekten Van Bo Le-Mentzel geht.

Wie kann gutes Leben und Wohnen in Zukunft leistbar werden? Wie kann Wohnraum 2050 aussehen, wenn die Menschheit von sieben auf zehn Milliarden angewachsen ist und sich vor allem in den Städten ansiedelt? Und wie viel Platz brauchen wir, um uns in den eigenen vier Wänden wohl zu fühlen?

Mögliche Antworten liefert Le-Mentzels neueste Kreation "Tiny100", ein Holzhaus auf Rädern, das Interessierte in Berlin-Kreuzberg diesen Winter wochenlang auf Herz und Nieren testen konnten: Bis zu 10 Menschen gleichzeitig begutachteten die Komposttoilette, wärmten sich am Holzofen oder kletterten die verschiebbare Holzleiter hoch, um im Schlafbereich Probe zu liegen. Da kann es schon mal eng werden, denn - nomen est omen - das "Tiny100" ist mit 6,4m2 durchaus winzig.

Eine Wohn-Bewegung

Klein, aber mein: Mit seinen 2x2,30m2 und damit gerade einmal demselben Platzbedarf wie ein VW Golf -ist das Berliner Exemplar ein würdiger Vertreter der Tiny-House-Bewegung. "Sie entstand aus einer Not, als die Geprellten der weißen Mittelschicht in den USA vor zehn Jahren nach der Immobilienblase nicht mehr genug Geld für ihren amerikanischen Traum hatten", erzählt Architekt Van Bo Le-Mentzel, "für ein Tiny House auf Rädern ohne Grundbucheintrag hatte es allerdings noch gereicht." Mittlerweile sind die kleinen Häuser für viele zum Dauerwohnsitz geworden. Schließlich sind sie effizient, ökologisch und kostengünstig. "Binnen weniger Wochen kann ein voll funktionstüchtiges Eigenheim entstehen, ohne Verkabelung, fließendes Wasser und sogar ohne Grundstück", listet der Gründer der Berliner "Tinyhouse University Kreuzberg" die Vorteile auf. Seit Jahren experimentiert er mit Konzepten von Tiny Houses, "nicht als Langzeitlösung", sondern um die aktuelle urbane Wohnpolitik in Frage zu stellen und zum Nachdenken anzuregen: "Wohnen in der Stadt soll für jeden möglich sein, ohne Geld zu zahlen", lautet der Traum von Van Bo Le-Mentzel, der 2010 mit Bausätzen für Selbstbaumöbel - den sogenannten "Hartz-IV-Möbel" - für Aufmerksamkeit sorgte. Die 100 Euro Miete für das "Tiny100" versteht er nur als fiktiven Wert. Er möchte vielmehr zeigen, dass sich mit einer klugen Architektur und einem dazugehörigen Wohnkonzept jeder überall auf der Welt ein warmes Dach über dem Kopf leisten kann. Und mit "Jeder" meint Le-Mentzel wirklich jeden, denn: "Es ist für jeden Menschen ein Grundrecht, da zu leben, wo er will", sagt er. "Die ganzen türkischen Familien aus Kreuzberg müssen nach Hellersdorf ziehen, weil sie es sich dort nicht mehr leisten können. Das geht nicht. Wohnen ist ein Grundrecht."

Schlechte Wohnungssubstanz

Die von Le-Mentzel angesprochenen Missstände finden sich nicht nur auf dem Berliner Immobilienmarkt, weiß Martin Schenk von der "Diakonie Österreich"."In den letzten zehn Jahren gibt es in Österreichs vier großen Städten immer weniger leistbaren Wohnraum", so der Sozialexperte und Mitbegründer der "Armutskonferenz","unter 1000 Euro herum hat man keine Chance, etwas Angemessenes zu bekommen. Man wird erpressbar, weil man mit der Hütte um 300-400 Euro alles in Kauf nehmen muss." So leben Studien zufolge 989.000 Personen, immerhin zwölf Prozent der Bevölkerung, etwa in feuchten, oft schimmligen Wohnungen. Auch undichte Fenster und schlecht isolierte Wände sind bei Menschen mit geringerem Einkommen häufiger zu finden. Diese mangelhafte Ausstattung gepaart mit schlechter Bausubstanz schlägt sich laut Studien im Energieverbrauch nieder: Während etwa die Hälfte aller Menschen einen 25-prozentigen Anteil der Wohn-inklusive Energiekosten am Haushaltseinkommen haben, steigt er ausgerechnet bei Haushalten mit niedrigem Einkommen auf über 50 Prozent. Besonders betroffen: Alleinerziehende und Personen, die während des ganzen Jahres keine Arbeit fanden. Fehlendes Geld für energiesparende Geräte oder bessere Ausstattung verteuern erst recht die Energiekosten.

Doch es ist nicht nur der Wohnraum selbst, an dem sozial Benachteiligte zu knabbern haben. "Wenn ich mit der Straßenbahn vom ärmsten Wiener Gemeindebezirk, Fünfhaus, in den reichsten nach Hietzing fahre, dann liegen dazwischen einige Minuten an Fahrzeit, aber auch fünf Jahre an Lebenserwartung der jeweiligen Wohnbevölkerung", fasst Schenk zusammen. "Die Gründe dafür sind vielschichtig. Eine wichtige Rolle spielen dabei in jedem Fall auch die räumlich unterschiedlich verteilten Belastungen am Wohnort." Tatsächlich werden immer mehr Wenigverdiener in günstige Wohngebiete, respektive Orte an Verkehrsrouten oder großen Straßen gedrängt. So wohnen laut deutschem Kinder-Umwelt-Survey Familien mit niedrigerem sozialen Status häufiger an stark befahrenen Haupt- oder Durchgangsstraßen mit wenig Grünflächen als andere. Sie sind dementsprechend öfter von Lärm, Luft- und Umweltverschmutzung betroffen und in Folge dessen häufiger gesundheitlich beeinträchtigt beziehungsweise chronisch krank.

Probleme der Raumplanung

Es sind Probleme, auf deren Lösung in der Raum-und Städteplanung der Gegenwart und Zukunft verstärktes Augenmerk gerichtet werden muss. Gefragt ist darüber hinaus die Politik: "Das Angebot des sozialen Wohnraums muss wieder stärker werden, damit die Leute nicht erpressbar sind", lautet eine von Schenks zentralen Forderungen, "gerade Wien hat in den 2000er-Jahren verabsäumt, die Lücke im sozialen Wohnbau zu schließen. Seit ein, zwei Jahren sehen wir wieder mehr Wohnbau, aber bis es wirksam wird, dauert es fünf bis sechs Jahre. Ähnliches gilt für Graz und Salzburg." Während es im Großen an bezahlbarem, qualitativ hochwertigem Wohnraum in guter Lage fehlt, haben private Initiativen wie Hausund Gemeinschaftsprojekte diesen Bedarf erkannt und Lösungsansätze für "Leute mit wenig Geld" gefunden, beobachtet der Experte. Beim Wohnprojekt Nordbahnhof etwa konnten Teilnehmer des Diakonie-Projekts "Sichtbar Werden", in dem sich 200 Armutsbetroffene regelmäßig treffen, ein leistbares Zuhause finden.

Das scheint ganz in Van Bo Le-Mentzels Sinn. Denn auch sein "Tiny100-Haus" soll nicht für sich allein stehen, sondern wird Teil eines großen Wohnkomplexes - eines sogenannten Cobeing-Hauses -, das 2019 für Berlin geplant ist: Jeder Mieter hat mit seiner eigenen 100-Euro-Wohnung genug Rückzugsfläche, zusätzlich gibt es einen 42 m2 großen Gemeinschaftsbereich. In Letzterem kann gemeinsam gekocht, gegessen, gespielt und gearbeitet werden. "Das Haus ist mit seinen nachbarschaftsfreundlichen fünf Geschossen so konzipiert, dass da sowohl Arme als auch Reiche zusammenfinden können sollen", plädiert Le-Mentzel gegen Gentrifizierung. "Wir brauchen weder mehr Luxusbauten noch mehr Sozialwohnungen. Wir brauchen mehr Durchmischung." Dementsprechend sollten Anwälte und Ärzte Tür an Tür mit Geringverdienern wohnen; Single-Studenten die Nachbarn von Familien sein. Und wenn für Letztere 100m2 einmal zu knapp werden, mietet sie einfach vier "Tiny100" für 400 Euro und hat eine Vierzimmerwohnung. So lange sie dieses Mehr an Wohnfläche eben braucht. "Günstig, flexibel, partizipativ und demokratisiert": Geht es nach Le-Mentzel, sieht so der Wohnraum der Zukunft aus. Ja, es hat großes Potenzial, dieses kleine Haus!

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