Tüchtig ist, wer vergißt ...

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Wenngleich ihre Maße oft fragwürdig sind, müssen uns Studien doch zu denken geben, die von einer Verdoppelung des Wissens alle 7,5 bis 15 Jahre ausgehen. Gemessen wird oft die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen, und natürlich sieht ein Blinder, daß hier zum Teil doppelt und dreifach gezählt wird und die Kontrolle der Qualität (was ist wirklich neues Wissen?) nicht sehr gut funktioniert.

Auch wenn der Wissenszuwachs nur halb so schnell voranschreitet, wie angenommen, ruft er dennoch nach einem neuen Verständnis von Lernen und Bildung.

Wir alle sind geprägt vom Modell der Aufklärung. Sie sah die Welt als ein zu lösendes Rätsel. Lösungen werden erarbeitet, indem diese Welt in verschiedene Teilfragen aufgespalten wird, die man isoliert untersuchen kann. Später sollen sie im menschlichen Gehirn wieder zusammengefügt werden, um ein Gesamtbild zu erhalten. In diesem Modell ist implizit Fortschrittsglaube angelegt. Es gilt der Satz "Mehr = Besser". Immer mehr Facetten des Rätsels können gelöst, in immer tiefere Schichten des Wissens kann vorgedrungen werden. Der/die einzelne ist als leeres Blatt Papier gedacht, das im Laufe des Lebens immer dichter beschrieben wird, beziehungsweise als leerer Behälter, in dem sich Schichten des Wissens aufeinander türmen.

Doch diese Argumentation übersieht, daß unser Gehirn anders arbeitet als ein Computer. Wir lernen kontextgebunden, das heißt bezogen auf bestimmte Umstände von Raum und Zeit. Wir lernen auch wertgebunden: Kausale Bezüge werden nicht neutral gespeichert, sondern erhalten ein Beurteilungsfähnchen mit aufgesteckt, das über gut/böse, schön/häßlich, zulässig/unzulässig entscheidet.

Wenn sich nun der Kontext und die Werte ändern, muß sich auch die Organisation unseres Wissens in uns ändern. Wir müssen die Automatismen wieder aufbrechen, die sich zwischen unseren Leitideen, unseren Vorgehensweisen und unseren emotionalen Stellungnahmen zu bestimmten Situationen eingeschliffen haben. Wir müssen auch intellektuell Platz schaffen für Neues und unseren Speicher daher von unwichtig(er) Gewordenem entlasten. Deshalb sprechen wir nicht nur vom Lernen, sondern auch vom Verlernen, nicht nur vom kollektiven Gedächtnis, sondern auch vom kollektiven Vergessen.

Vergessen ist hier mit Loslassen gleichzusetzen, nicht mit Verdrängen im psychoanalytischen Sinn. Die bewußte Auseinandersetzung und das anschließende Loslassen sind anstrengend und oft schmerzhaft. Sie stehen im Widerspruch zum Fortschrittsmodell, das uns alle bis in die kleinen Zehen gepackt hat: Wir trainieren im Sport, um immer besser, schneller, zielgenauer zu werden. Wir lernen neue Tricks am Computer.

Doch schon hier wird es deutlich: Die alten Tastenkombinationen gelten nicht mehr, sie müssen aus den Fingerspitzen verschwinden, ehe das neue System beherrscht wird. Noch viel schwieriger ist es, Werte aus den Finger- und Zehenspitzen zu vertreiben. Je älter wir sind, je mehr wir erlebt haben, umso tiefer die Prägungen. Tüchtig ist, wer vergißt, was nicht mehr zu brauchen ist ...

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