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Digital In Arbeit

Planung ist gut - Offenheit ist besser

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Kürzlich starb die Frau eines Bekannten an den Folgen eines Verkehrsunfalles. „Der Mensch denkt, Gott lenkt“ - das war die Antwort, ja Trost des Mannes auf meine stumme Betroffenheit. Flucht aus Sprachlosigkeit in ein Sprichwort - oder?

Für mich bekam dieses Sprichwort in diesem Augenblick eine neue Dimension. Es rückte sozusagen aus der Gedankenlosigkeit in eine betroffen machende Aktualität. In einer mit allem technologischen Raffinement und Können geplanten Welt - Lenkung von Seiten Gottes? Man plant heute die Geburt, man plant in Zehn-,

Zwanzig-Jahres-Räumen, man teilt ein, den Tag, das Jahr, die Mitarbeiter, man wird eingeteilt, denn diese zivilisierte Welt funktioniert nur, wenn alles nach Erwartung vor sich geht, abläuft. Wir haben uns daran gewöhnt, unsere Phantasie ist weitgehend abgetötet, um sich Alternativen auszudenken.

Wie soll die Schule funktionieren, wenn nicht Schüler und Lehrer pünktlich kommen, wie ein Industriebetrieb, wenn man mit der regelmäßigen Anwesenheit von Arbeitern und Angestellten nicht rechnen kann? Unsere industrielle Gesellschaftsstruktur, die uns so großartige Vorteile und Bequemlichkeiten bringt, be-

ruht auf Rationalität, wir haben auch dort, wo Wissenschaft nicht gerade offensichtlich wird, ein wissenschaftliches Weltverständnis entwickelt und beziehen ganz selbstverständlich Ursache und Wirkung in unser Denken ein. Wir glauben, Wunschkinder müßten, weil sie Wunschkinder sind, glückliche Menschen sein.

Bei einem meiner Grönlandaufenthalte sagte mir ein grönländischer Arbeiter: „Wie kann ich zur Arbeit gehen, wenn mein Kind Geburtstag hat?“ Wie würde hierzülande ein Arbeitgeber reagieren, wenn sein Arbeiter an jedem Geburtstag seiner Kinder nicht zur Arbeit käme?

Die Europäer auf Grönland haben sich kaum an eine Arbeitsmoral dieser Art gewöhnen können. Zwei Denk- Systeme, zwei Lebensweisen prallten hier aufeinander. Aber sowohl das alte Sprichwort als auch die Antwort des Grönländers passen in eine Kategorie:

Sie setzen die Einsicht voraus, daß das eigentliche Leben anderswo stattfindet, nicht in den Fabriken, nicht in Schulen, nicht in Büros - wo wir funktionieren, aber kaum leben. Es setzt ein dialektisches Denken voraus, das bei aller notwendigen Vorausplanung die Möglichkeit des nicht Berechenbaren, des Lebendigen, des nicht Voraussehbaren miteinschließt.

Je mehr wir planen, je per fekter wir es tun, je mehr Sicherheiten wir uns einkaufen, um so mehr wird uns dann das treffen, was man einst als Schicksälsschlag bezeichnet hat. Auch als Heimsuchung Gottes. Wir legen einen Raster über unseren Tag, über unser Leben, kalkulieren und versichern diese Zeit von der Wiege bis zur Bahre. Fällt dann in unseren rational strukturierten Tag dieses Unvorgesehene, was dann?

Da ging einmal das Gerücht von einem Beamten, der nicht Hofrat wurde und sich darum das Leben nahm. Lebensplanung daneben gegangen? Oder fangen wir wie die Spinne sofort an, ein neues Netz zu weben, wenn das alte, mühsam genug errichtete, zerrissen ist?

Tod, Schmerz, Leid - ein Einbruch des Lebendigen? So habe ich das Stichwort in diesem Augenblick der Trauer empfunden. Dieser Tod schaffte neue Liebe im Ausdruck der Zusammengehörigkeit, des Mitfühlens. Um die Anerkennung dieses Lebendigen kommen wir nicht umhin, es ist da, auch wenn wir vorerst nicht fragen, woher es uns kommt.

Natürlich müssen wir planen, und eigentlich wissen wir kaum eine Alternative zu unserem arbeitsteiligen System, das Planung, Ordnung, Pünktlichkeit erfordert. Chaos ist keine Alternative. Aber wir müßten immer um dieses Lebendige wissen, um die Möglichkeit der Nichtwiederkehr, wenn wir in ein Auto steigen oder wenn wir einen Tag beginnen, um die Möglichkeit, ihn nicht zu Ende leben zu dürfen.

In der Anerkennung dieses Lebendigen liegt eine große Offenheit dem Leben gegenüber, und diese Offenheit sollten wir uns nicht nehmen lassen. Denn es bedeutet auch Offenheit dem Nächsten gegenüber, den man wie sich selbst von diesen Einbrüchen des Lebendigen gefährdet (und beglückt) weiß.

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