"Ziegel und Wellblech für eine Wählerstimme"

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Wenige Monate vor den Präsidentenwahlen im Juli ist das politische Klima für einen friedlichen Regierungswechsel in Mexiko so ungünstig wie eh und je. Nepotismus, Korruption und die fehlende Bereitschaft, einen Sieg des politischen Gegners anzuerkennen, lassen kaum Gutes erwarten. Roberto Guevara kommentiert Mexikos Politik aus Sicht derer ganz unten, und er kritisiert die Position der Kirche in den brennenden sozialen Fragen.

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Wenige Monate vor den Präsidentenwahlen im Juli ist das politische Klima für einen friedlichen Regierungswechsel in Mexiko so ungünstig wie eh und je. Nepotismus, Korruption und die fehlende Bereitschaft, einen Sieg des politischen Gegners anzuerkennen, lassen kaum Gutes erwarten. Roberto Guevara kommentiert Mexikos Politik aus Sicht derer ganz unten, und er kritisiert die Position der Kirche in den brennenden sozialen Fragen.

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dieFurche: Wie sind Sie auf diese Menschen, die auf der Müllhalde von Mexiko City am Existenzminimum leben, aufmerksam geworden?

Roberto Guevara: Im September 1985 gab es in Mexiko ein großes Erdbeben, und es starben mehr als 10.000 Menschen. Bei den Aufräumungsarbeiten wurde der Schutt der zerstörten Häuser mitsamt den darin verborgenen Leichen auf die Müllhalde der Stadt gebracht. Die Hinterbliebenen und die Menschen die im Müll wohnten, sind dann an mich herangetreten und haben mich darum gebeten, für diese Toten eine Messe zu feiern, sie zu beerdigen. Das war der Anfang, und seit damals bin ich bei den Menschen auf diesem Müllberg.

dieFurche: Und wie ist dieser Kontakt dann weitergegangen?

Guevara: Anfangs habe ich nur pastorale Arbeiten gemacht: Messen gefeiert, Sakramente gespendet ... Nach und nach, mit dem Bau des Kindergartens und der Ambulanz sind dann auch organisatorische und soziale Aufgaben dazugekommen.

dieFurche: Werden diese Müllsammler jemals in ihrem Leben noch vom Müllberg wegkommen?

Guevara: Nein, die Erwachsenen, die hier arbeiten, haben keine anderen Möglichkeiten. Die kommen vom Land, besitzen keine Ausbildung und können nur einfachste Tätigkeiten ausüben. Die müssen auf der Müllhalde arbeiten und können nicht weg.

Für die Kinder sieht die Sache anders aus. In unserem Kindergarten sollen die Kinder soweit vorbereitet werden, daß sie mit sechs Jahren in die öffentlichen Schulen gehen können. Das ist ihre Chance, vom Müllberg wegzukommen. Und die versuchen wir ihnen zu geben.

dieFurche: Die Kinder, die den Weg aus dem Müll schaffen, werden jeden Tag von anderen Landflüchtigen ersetzt. Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, diesen Teufelskreis zu stoppen?

Guevara: Der Zuzug ist noch immer sehr stark. Täglich kommen 1.200 Menschen nach Mexiko City, was bedeutet, daß jedes Jahr eine weitere Siedlung mit 300.000 Leuten rund um den Müll entsteht. Solange die mexikanische Regierung weiterhin die wirtschaftliche Entwicklung auf dem Land vernachlässigt, wird dieser Strom nicht abreißen.

Das politische und wirtschaftliche System in Mexiko ist sehr stark von den USA beeinflußt. Und Investitionen auf dem Land machen keinen schnellen Profit - aus diesem Grund wird in diese Richtung auch nichts unternommen werden.

dieFurche: Vergangene Wahlergebnisse zeigen aber, daß die seit über 70 Jahren allein regierende Partido Revolucionario Institucional (PRI) gerade von der Landbevölkerung unterstützt wird. Die Opposition hingegen gewinnt in den Städten. Wenn es mit der staatlichen Förderung so schlecht ausschaut, warum wählen die meisten Kleinbauern immer noch die PRI?

Guevara: Das ist richtig, die PRI hat auf dem Land die Mehrheit der Stimmen, aber das sind gekaufte Stimmen. Wenn einer Gruppe von Bauern versprochen wird, sie erhalten ein paar Traktoren, dann geben sie dafür ihre Wahlausweise her. Im Wahlkampf kommt die Regierungspartei mit zwei Tonnen Zement, einer Tonne Ziegel und Bergen von Wellblech, um dafür von den Leuten ihre Wahlausweise zu erhalten. Es ist einmal ausgerechnet worden, daß der Regierungspartei eine Stimme etwa 400 US-Dollar kostet. Die Demokratie kommt der Regierung in Mexiko also sehr teuer!?

dieFurche: Verzichtet die Opposition auf solche Methoden, oder sind diese Bestechungen ein gängiger Brauch um an Wählerstimmen heranzukommen?

Guevara: Wenn die Opposition gewinnt, dann nur weil sie auch Investoren an ihrer Seite hat. Es gibt keine Partei, die in Mexiko ohne viel Geld eine Wahl gewinnen kann. Die Regierung hat einen bestimmten Teil der Wirtschaft favorisiert. Andere Sektoren fühlen sich hintergangen und benachteiligt. Die unterstützen dann eben die Opposition, in der berechtigten Hoffnung, daß diese Investitionen einmal reiche Frucht tragen.

Neben diesen Gruppen gibt es wenige, die eine Bewußtseinsbildung beim einfachen Volk versuchen. Man müßte die Leute davon überzeugen, daß ihre Stimmen viel mehr wert sind, als diese läppischen Bestechungsgeschenke. Aber wie kann man das jemanden beibringen, der seit Jahren auf ein paar Tafeln Wellblech wartet.

dieFurche: In der gesamten Geschichte seit der Unabhängigkeit des Landes hat es keinen einzigen Fall eines friedlichen Machtwechsels gegeben. Was erwarten sie sich von den anstehenden Präsidentenwahlen?

Guevara: Die PRI ist an die Macht gekommen, indem sie vor Morden nicht zurückgeschreckt hat. Und wenn sie die Macht verlieren sollte, wird sie wieder über Leichen gehen. Außerdem, wenn die PRI verliert, dann nehmen sie das Geld auch mit.

Zu bedenken ist, daß es um die Alternativen schlecht steht. Die Allianz zwischen der konservativen Partido Accion Nacional (PAN) und der sich von der PRI abgespaltenen neuen Partei des linken Spektrums Partido de la Revolucion Democratica (PRD) ist gescheitert. Unter den Linken ist auch keine Aussicht auf Zusammenarbeit in Sicht. Das kommt immer wieder vor in Lateinamerika. Gäbe es nämlich eine Allianz der Linken, würde vieles anders aussehen.

dieFurche: Welche Rolle spielt die katholische Kirche in dieser Situation?

Guevara: Man kann von zwei Kirchen sprechen: der hierarchischen Kirche und der Kirche des Volkes. In Mexiko gibt es 120 Bischöfe. 115 davon vertreten in etwa die Linie, der ich auch den österreichischen Bischof Kurt Krenn zuordnen würde. Und den wenigen Bischöfen, die für das einfache Volk sind, wird ja bekanntlich ein Aufpasser an die Seite gestellt. Und die jungen Leute, die heute in die Priesterseminare eintreten, sorgen dafür, daß diese politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Positionierung der Kirche weiterhin gesichert bleibt.

In meinem Diözesangebiet gibt es noch etwa 70 Priester. Außer mir und dem niederösterreichischen Priester Martin Römer, der auch bei den Müllsammlern lebt, kümmert sich aber keiner um die Ärmsten.

dieFurche: Ist das Wort und die Sache Befreiungstheologie in Mexiko also schon zum Fremdwort geworden?

Guevara: So einfach ist es nicht. Befreiungstheologie: Es gibt sie, und sie hat viel Kraft, aber wir machen keinen Lärm darum. Im Volk gibt es das Sprichwort: Kitzle nicht den Bart des Tigers! Der Tiger ist die hierarchische Kirche. Das haben wir in der Zwischenzeit - auch durch diese Ereignisse rund um Leonardo Boff und andere Theologen - gelernt. Natürlich leben, lehren, predigen wir Befreiungstheologie, aber wir machen keinen großen Lärm darum. Das ist die Kirche und die Theologie der Katakomben: Wir vernetzen uns, aber wir machen es leise ...

dieFurche: So leise, daß es in Rom nicht gehört wird. Gibt es nichts mehr, was sie sich an Unterstützung vom Papst, von der Kirchenleitung in Rom erwarten?

Guevara: Nein! Rom unterstützt und begünstigt in Lateinamerika vor allem charismatische Gruppierungen. Der Papst ist sich dessen wahrscheinlich gar nicht bewußt. Wenn es einen Bischof gibt, der sich für das Volk einsetzt, dann wird ihm ein charismatischer Bischof beigestellt. Und dasselbe passiert jetzt schon bei uns Priestern. Auch mein Kollege Martin Römer wird bereits aus dieser Richtung sozusagen überwacht.

dieFurche: Was unterscheidet Ihre pastorale Arbeit von jenen Priestern, die sie als charismatisch bezeichnen?

Guevara: Ein bekannter Vergleich ein wenig erweitert: Wenn ein Mensch Hunger hat, und du gibst ihm einen Fisch, dann kann er einen Tag davon leben. Wenn du ihm aber beibringst, wie er fischt, dann kann er damit ein Leben lang auskommen. Wenn du dieser Person - die Hunger hat - aber sagst sie soll niederknien und beten, dann beschreibt das die Vorgangsweise dieser charismatischen Gruppen.

dieFurche: Und Sie verstehen sich als einer, der das Fischen lehrt?

Guevara: Ich versuche beides. Ich gebe den Fisch - solange und sooft ich einen habe -, und ich versuche den Leuten auch beizubringen, wie sie selber fischen können.

Die Hierarchie in der Kirche wird sich nicht ändern, und der nächste Papst wird auch nicht anders sein. Statt politischer und diplomatischer Päpste bräuchten wir mehr prophetische und pastorale Päpste. Aus menschlicher Sicht, sehe ich keine Hoffnung, da die Armen bei uns immer mehr werden. Hoffnung macht mir nur eine neue Art von Christentum, die ich auch erlebe: Menschen, die Gott bei den Bedürftigsten suchen. Das ist woran ich glaube.

Das Gespräch führte Wolfgang Machreich ZUR PERSON Mitten im Mist zuhause Seit mehr als 20 Jahren lebt der Jesuit Roberto Guevara bei den Müllsammlern am Rande von Mexiko City. Mit Unterstützung von Missio Austria hat der 63jährige Pater einen Kindergarten gebaut, um wenigstens den Kindern eine Grundausbildung und damit die Chance für ein späteres Leben abseits der Müllberge zu eröffnen. Ziel ist es, die Kinder, die dort auf der Müllhalde ihr Leben fristen, vor dem Leben auf der Straße und damit vor Drogen und Kriminalität zu bewahren.

Neben dem Kindergarten gibt es eine Ambulanz, in der die Wunden jener versorgt werden, die sich beim Wühlen im Müll verletzen. Im Gespräch mit der Furche erinnerte der Jesuit daran, daß Mexiko 1938 eines der wenigen Länder war, das gegen den Anschluß Österreichs an Hitlerdeutschland protestiert hat. Möglichkeiten, sich für diese Solidarität zu revanchieren, sieht Guevara genug. Eine davon wäre, dem Beispiel Italiens zu folgen, und in der EU gerechtere Wirtschaftsverträge mit Mexiko einzufordern.

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