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Das Nachhinken eines Systems

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Es geht 1969 nicht um unerwartete, erstmalige staatsfinanzielle Belastungen; es geht nicht darum, daß Schülern und Eltern die Last eines erstmalig hinzukommenden Schuljahres erspart werde.n soll. Denn mit dem sogenannten 13. Schuljahr ist Österreich Ende der sechziger Jahre erst wieder dort angelangt, wo das alte Österreich bereits vor 40 Jahren gestanden hat, nämlich bei der 13jährigen Vorberatung auf das Hochschulstudium; und dies angesichts einer seither fast ins Ungemessene gewachsenen Stoffülle, die eine allseits entfaltete Allgemeinbildung nach den Elementen humanistische Bildung, moderne Naturwissenschaften, Einführung in die Sozial- und Wirtschaftskunde, lebende Fremdsprachen und Kultur-umfolick im Welthorizont erforderlich macht. Im letzten Jahr meiner Ministerschaft (1963/64) habe ich den jetzt vorliegenden OECD-Bericht angefordert, der den Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Bildungsfortschritt aufzeigt. Damals wurden bereits die fatale Situation sichtbar, die J. K. Galhraith in seiner jetzt herausgebrachten Analyse und Prognose „Die moderne Industriegesellschaft“ sichtbar macht: Die Existenz zwischen hypermodernen Maschinen und veralteten Einrichtungen, die größtenteils aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammen; ein in rasanter Entwicklung befindliches Industriesystem und ein Biidungs-system, daß immer mehr nachhinkt. Vor allem aber

• die Konzentration der Macht bei den technokratischen Experten, die die Alternativen durchspielen und die Entscheidungen vorentscheiden, mögen nachher die komponenten Regierungsbehörden und Bildungsverantwortlichen tun was sie wollen. Im Gewand der Rationalisierung und mit der anscheinenden Legitimation des erfahrenen Sachverstandes wird vor der Fassade der Demokratie das Perpetuum mobile der Industriegesellschaft in Gang gesetzt. Eigenwillige Köpfe, Problemsucher, Leute, die sich nicht völlig mit der Arbeit identifizieren oder gar nach dem Sinn des ganzen fragen, werden disqualifiziert. Das ganze ist keine Fehlentwicklung sondern programmiert:

• 1945, nach dem zweiten Weltkrieg, lernen dieses Neudenken zuerst die britischen Arbeiterparteiler: „Haben wir einmal die Wirtschaft in Ordnung gebracht“, schreibt einer in „New Statesman and Nation“, „dann brauchen wir wieder den draufgängerischen Individualisten alten Stils, den Bahnbrecher, den Experimentatoren usw. Im Rahmen einer Planwirtschaft kann ein solcher Mann keinen Schaden anrichten.“

• Etwa gleichzeitig meldeten sich die Konservativen in der Fasson des französischen Publizisten und Soziologen Raymond Aron zu Wort: „Die Menschen beschäftigen sich jetzt mehr mit Problemen der Produktion, mit der besseren Verteilung des Wohlstands, mit ihrem sozialen Status.“ Da könne es schon geschehen, daß der „entpolitisierte Rationaldsie-rungsfachmann“ das übersehe, was man bisher „die in einer alten Kulturerbschaft verkörperte Welt“ genannt hat. Wie es demnach der staatlichen Kulturpolitik im Nachkriegszeitalter tatsächlich ergangen ist, das beschreibt der Soziologe Johannes Meßner:

Obwohl in allen westlichen Demokratien die Regierungen und die für das Bildungswesen beauftragten Minister sich über das völlig Unzureichende des Kulturbudgets klar sind, vermögen sie nicht die notwendigen finanziellen Mittel sicherzustellen.

Ich habe die Verlängerung der Schulpflicht auf 9 Jahre nicht einfach deswegen vertreten, weil es so in den Schulprogrammen politischer Parteien gestanden hat. Bei den langjährigen Vorberatungen hat ein anderer Umstand eine entscheidende Rolle gespielt. 1869, als das Reichsvolksschulgesetz entstand, belief sich die durchschnittliche Lebenserwartung eines Menschen nicht einmal auf 40 Lebensjahre. Von diesen 40 Jahren verlangte der Staat acht Jahre für die Erfüllung der Schul-Pflicht, 3 oder 4 Jahre für den Militärdienst, so daß etwa 28 Jahre (zumeist viel weniger) für die Erfüllung des höchstpersönlichen Daseins übrigblieben. 1969 beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung mehr als 70 Jahre; sie wird in den nächsten beiden Jahrzehnten auf über 80 Jahre ansteigen. 9 Jahre davon soll die Schulpflicht ausmachen, nicht ganz 1 Jahr beträgt die Wehrdienstzeit. Damach bleiben dem einzelnen 60 Jahre für sein Berufs- und Pensionsleben. Mit anderen Worten: In der Lebenserwartung wird fast eine ganze Generation, 30 Jahre, hinzukommen. Es liegt der Gedanke nahe, für dieses längerwahrende Dasein einen anderen Lebensrhythmus zu empfehlen als jenen des 19. Jahrhunderts. Und da jetzt, im Ablauf der zweiten, oder wie andere sagen der vierten, Industriellen Revolution, der Leistungsanspruch an den Menschen ungleich größer ist als der zu Beginn der ersten Industriellen Revolution wird es ratsam, das Mehr an Lebenserwartung nicht nur der Lebenserfüllung zuzurechnen, sondern der Lebensvorbereitung im Stufengang Berufsausbildung, Berufsfortbildung, Berufsaufstieg.

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