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Die Kindersterblichkeit in der Großstadt

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Eine der schlimmsten Begleiterscheinungen vergangener Monate war die Zunahme der Kindersterblichkeit. Schon der oft stundenlange Aufenthalt in feuchten, kalten Luftschutzkellern, die in der Folge oft improvisierte und unregelmäßige Ernährung, die psychischen Aufregungen, die irgendwie auch den Ablauf der Lebensfunktionen ber Kleinsten unbewußt in Mitleidenschaft zogen, hatte unheilvolle Wirkungen für die Gesundheitslage unserer Kinder, der Frontzustand und die folgende Zeit unzureichender Ernährung steigerten noch die Gefahren.

Die Mütter und mit ihnen alle, denen die Sorge für bie Kinder unseres Volkes anvertraut ist, fragten sich und fragen sich vielleicht noch bange, wie sich hier die nächste Zukunft gestalten wird. Denn zum Aufbau eines Volkes ist eine gesunde Jugend nötig, die einmal das zu Ende bringen soll, was wir Alten schwer, aber freudig begonnen haben und fortführen wollen. Denn wir alle wissen, daß viel schneller niedergerissen ist als aufgebaut, daß unsere Kinder noch viel eigene Kraft werden einsetzen müssen, ehe das Volk als Ganzes wieder lebensstark und gesund sein wird.

All diesen sich um die Kinder unseres Volkes Sorgenden möchte ich Mut machen und ihnen Hoffnung, berechtigte Hoffnung für die Zukunft geben.

Sehen wir uns die beigegebenen Kurven an. Eines fällt uns sofort auf: die Annäherung der beiden Linien — der Kur'e, welche die Höhe der Aufnahme kranker Säulinge das Spital in den Monaten April bis Oktober 1945 graphisch darstellt, und jener, welche die auf diese Aufnahmen entfallenden Todesfälle zeigt — im Monat Juli. Danach kommen in diesem Monat auf 43 Säuglingsaufnahmen 32 Todesfälle. Dagegen entfallen auf das Maximum der Aufnahmen im Mai (=58) nur 16 Todesfälle.

Bei den größeren Kindern stehen — wie die Vergleichszahlen zeigen — Aufnahmszahl und Todesfälle in einem annähernd normalen Verhältnis zueinander.

1945 April Mai Juni Juli Aug. Sept. Okt.

Aufnahmen 12 57 135 139 99 99 118 Todesfälle 3 9 15 35 19 12 15

Mit diesem Ergebnis, das wir aus dem Stand eines willkürlich herausgegriffenen Wiener Spitals ermittelt haben, stimmen die statistischen Angaben über Säuglingssterblichkeit überein, die ebenfalls für Juli ein Maximum zeigen — 350 v. T. —, während sie normalerweise 70 v. T. beträgt.

Die meisten Todesfälle des fraglichen Monats gehen auf Ernährungsstörungen zurück.

Nun ist es eine dem Kundigen bekannte Tatsache, daß sich mit dem Einsetzen der wärmeren Monate die Todesfälle im Säuglingsalter mehren, wobei das Maximum aber gewöhnlich dem Spätsommer zukommt. Die bis jetzt gefundenen Gründe für diese Tatsache zu erörtern, gehört “ nicht in den Rahmen unserer heutigen Untersuchungen.

Wir wollen uns eine kleine Gegenüberstellung derselben Zeit anderer Jahre ansehen:

Säuglinge Gr. Kinder Ernährungs-Auf, gest. Auf. gest. Störungen gest.

August 1944 46 11 112 3 4 August 1945 43 18 99 19 18

Günstig ist für den Vergleich, daß in den beiden Vergleichsmonaten ungefähr gleichviel Säuglinge aufgenommen wurden. Wir sehen, daß im August 1945 den Ernährungsstörungen 18 Kinder zum Opfer fielen, während im August 1944 bloß 4 Kinber an dieser Krankheit zugrunde gingen.

Mancher wird fragen, warum die höchste Sterblichkeit sich erst in einem Monat zeigt, wo schon eine leichte Besserung in den äußeren Umständen eingetreten war. Doch möge man bedenken: Jeder Organismus hat eine gewisse Reservekraft, die er zunächst einsetzt, wenn die äußeren Bedingungen sich verschlechtern und er nicht mehr das zugeführt bekommt, was er zum normalen Lebensablauf braucht. Diese Ausbalancierung dauert mehr oder minder lange. Schließlich ist die Reserve verbraucht und dann kommt der Zusammenbruch, wobei ein Auffangen oft schon zu spät kommt. In manchen Fällen mag auch eine Rolle spielen, daß die Eltern noch etwas an Nahrung dem Kinde zusetzen konnten von Vorräten, die sie für Notzeiten gespart hatten. Diese eisernen Vorräte waren aber schließlich zu Ende, und • nun war das Kind auf das angewiesen, was ihm noch zugeteilt werden konnte. Und das war zu jener Zeit bei bestem Willen aller Beteiligten oft unzulänglich. Dieselben Faktoren bewirkten auch eine herabgesetzte Stillfähigkeit der Mütter, so daß das Kind auch auf diesem Weg nicht die nötige Nahrung erhielt, wobei die oft notgedrungen unzweckmäßige Nahrung der stillenden Mutter eine . Darmerkrankung des Kindes begünstigte.

So also lagen die Dinge vor wenigen Monaten. Und sie waren alles eher als rosig.

Nun prüfen wir die Monate September, Oktober:

Säuglinge Größere Kinder Auf. gest. Auf. gest.

September 1945 31 8 99 12 Oktober 1945 22 8 118 15

Wir bemerken, daß die Zahl der Todesfälle auf ein gleichbleibendes, nicht mehr erschreckendes Maß zurückgegangen ist, wobei die meisten ber Diphtherie zur Last zu legen sind, wie dies immer im Herbst der Fall ist. Sicher spielt auch hier noch der heruntergekommene Allgemeinzustand der Kinder eine Rolle, denn die Diphtherietodesfälle treffen ja seltener Säuglinge, sondern meist größere Kinder, bei denen eine Wiederherstellung all dessen, was versäumt wtfrde, viel längere Zeit in Anspruch nimmt. Wir dürfen uns auch nicht der Tatsache verschließen, daß gerade die Kinder über sechs Jahre im Vergleich zu den jüngeren Lebensaltern noch nicht gut gestellt sind. Doch wird es auch hier langsam, aber dafür stetig aufwärtsgehen.

Auch das Absinken der September-Sterblichkeitsziffer für Säuglinge auf 150 von Tausend stimmt wieder mit unseren Beobachtungen überein.

So dürfen wir sicher sein, daß der Tiefstand bereits der Vergangenheit angehört und können aufatmend feststellen, daß die Aussichten für unsere Kleinen dauernd sich bessern. Sicher wird der Winter noch Härten bringen, aber wir wissen, daß alle verantwortlichen Stellen ihr Möglichstes tun, um die aufsteigende Linie weiter aufwärts zu führen.

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