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Ein Schritt weiter in Sudtirol

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Aus den letzten Nachrichten über Südtirol ist vor allem eine hervorzuheben, die für Südtirol von außerordentlicher Bedeutung sein kann, wenn die Anwendung der betreffenden Bestimmungen wirklich im Rahmen jenes Geistes der Duldsamkeit gehandhabt wird, der im Abkommen Gruber-De Gasperi vom September 1946 so schön verbrieft ist. Es handelt sich um die Errichtung des italienischen Verfassungsgerichtshofes, der für die Differenzen in der Gesetzesauslegung zuständig ist. In all den Jahren bisher wurde diese Lücke in der Entwicklung der Südtiroler Autonomiebestrebungen am empfindlichsten empfunden.

Nun stehen die Artikel 82 und 83 des Autonomiestatutes nicht mehr bloß auf dem Papier, sondern können durch die Aufsichtstätigkeit des Verfassungsgerichtshofes in die Wirklichkeit umgesetzt werden.

Artikel S2 des Autonomiegesetzes lautet:

„Das Regional- oder Landesgesetz kann vor dem Verfassungsgerichtshof wegen Verletzung der Verfassung oder des ' Autonomiestatuts oder des Grundsatzes der Gleichbe recht i-gunf der Sprachgruppen angefochten v/erden.

Die Anfechtung kann durch die Regierung vorgenommen werden.

Das Regionalgesetz kann auch von einem der Landtage der Region angefochten werden. Das Landesgesetz kann vom Regionalrat oder von dem anderen Landtag der Region (also entweder vom Landtag in Bozen oder vom Landtag in Trient) angefochten werden.“

Artikel 83 des Autonomiegesetzes läutet:

„Die Gesetze lind die mit Gesetzeskraft ausgestatteten Akte der Republik können vom Präsidenten des Regionalausschusses über Beschluß des Regionalrates wegen Verletzung dieses Statutes angefochten werden.“

Nun haben die Südtiroler endlich den Gerichtshof, der für die Entscheidung in Streitigkeiten sowohl auf gesetzgeberischer Basis als auch wegen Gleichberechtigung der Sprachgruppen zuständig ist.

Folgende . Fälle unterliegen nunmehr dem Buchstaben des Gesetzes nach der Jurisdiktion des Verfässungsgerichtshofes:

1. Streitigkeiten zwischen Staat und Region, d. h. den beiden Provinzen Südtirol und Trient.

2. Streitigkeiten zwischen dem Staat und der Provinz.

3. Streitigkeiten zwischen Region und Provinz.

4. Streitigkeiten zwischen beiden Provinzen.

5. Streitigkeiten zwischen der Region und einer anderen Region.

6. Streitigkeiten zwischen der Provinz und einer anderen Region.

Der Verfassungsgerichtshof ist auch bei Verletzung der Verfassung „oder des Grundsatzes der Gleichberechtigung“ der Sprachgruppen zuständig. Allerdings ist hier wieder eine sehr einschneidende Einschränkung dadurch gegeben, daß die Möglichkeiten d i e s e r Anfechtung nur für die Regierung gegeben ist, nicht aber für die einzelnen Sprachgruppen.

Immerhin bleibt aber noch eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die für die Durchführung des Autonomiestatutes von außerordentlicher Wichtigkeit sind und für die bisher kein Gerichtshof zuständig war.

Auf diese Weise wird die Ungerechtigkeit der Region an sich, die leider schon im Abkommen Gruber-De Gasperi der italienischen Provinz Trient mit rund 5 50.000 Einwohnern gegenüber der deutschen Provinz Bozen mit 240.000 Einwohnern den Vorzug gibt, eingeschränkt, denn durch die Errichtung des Verfassungsgerichtshofes ist nun ein Forum gegeben, vor dem Streitigkeiten zwischen Provinz und Region einerseits und zwischen den Provinzen untereinander anderseits ausgetragen werden können.

Loyalerweise sei festgestellt, daß die beiden Provinzen Bozen und Trient verhältnismäßig gut zusammenarbeiten und daß Streitigkeiten nicht auf administrativem Gebiete, sondern lediglich auf politischem und insbesondere auf sprachlichem Gebiete vorkommen

Sehr zu begrüßen ist die neue Möglichkeit einer Lösung von Streitigkeiten zwischen Staat und Region, denn es ist immer wieder vorgekommen, daß die Regierung Regionalgesetze rück verwiesen hat, und zwar häufig aus fadenscheinigen Gründen und um Regionalverwaltung und Provinzverwaltung in ihrer Tätigkeit einzuschränken. Durch den Verfassungsgerichtshof werden nun diese Möglichkeiten der Rückver-weisung eingeschränkt.

Der Ministerpräsident Segni hat in der letzten Zeit die Südtiroler Abgeordneten zu einer Aussprache empfangen, die in freundschaftlichem Ton verlaufen sein soll.

Durch die Errichtung des Verfassungsgerichtshofes ist immerhin zumindest theoretisch für die Südtiroler ein Schritt vorwärts getan, da ihnen dadurch die Möglichkeit staatsrechtlicher Auseinandersetzungen gegeben wird.

Zu diesen Konflikten gehören in erster Linie alle jene Einschränkungen, die bis jetzt von der Regierung auf sprachlichem Gebiete ohne Rücksicht auf die Gleichberechtigung verfügt wurden. Berücksichtigt waren auch die Verordnungen über den Amtsverkehr der Gemeinden untereinander, der nur in italienischer Sprache erfolgen darf sowie die verschiedenen Erlässe auf dem Gebiete des Schulwesens.

Von den Paragraphen des Autonomiestatutes sind bisher nur für 17 Paragraphen Durchführungsbestimmungen erlassen worden, während alle anderen Paragraphen bis heute, infolge des Mangels von Durchführungsbestimmungen nicht angewendet werden können.

Unter den von der Regierung zurückverwiesenen Regionalgesetzen seien folgende Gesetzentwürfe der Regionalverwaltung erwähnt: Kindergartengesetz (mehrere Male rückverwiesen), Schulgesetz, Hotelfachschulgesetz, Berufsschulgesetz, Landschaftsschutzgesetz und Handwerksordnung.

Durch die Errichtung des Verfassungsgerichtshofes ist die Möglichkeit einer schnelleren Regelung gegeben, da die Rückverweisung angefochten werden kann.

Die Trentiner Zeitung „L'Adige“ schreibt mit besonderem Hinweis auf die Möglichkeit dieser Anfechtungen, daß gerade auch Verstöße gegen den Grundsatz der Gleichberechtigung der Sprachgruppen vor den Verfassungsgerichtshoi gebracht werden können und daß damit der Verfassungsgeber einen Akt mustergültiger Loyalität vollzogen habe, der nicht verkannt werden sollte; wenn er wünscht, solle diese Möglichkeit nicht nur ein Mittel der Polemik, sondern auch ein Mittel für die Errichtung eines gerechten Systems regionaler Ordnung sein.

Niemand wäre froher als die Südtiroler Bevölkerung, wenn der Staat den neuen Verfassungsgerichtshof als eine Plattform ansähe, auf der die Ungerechtigkeiten, die “bisher der deutschen Sprachgruppe in Südtirol in einer langen Kette von Seiten der Regierung zugefügt wurden, ausgetragen werden können; damit ergäbe sich eine gerechtere Behandlung der deutschen Sprachgruppe in Südtirol überhaupt.

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