Weg vom negativen Frieden! d.

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Südtirol steht noch immer vor der Aufgabe, eine Kultur des Zusammenlebens zu entwickeln - damit die Autonomie zu einem gemeinsamen Haus für alle Bewohner wir

Viva Alto Adige". Mit diesem Titel auf Seite eins feierte am 14. Juni 1992 die "New York Times" die Beendigung des bei der UNO seit 1960 zwischen Italien und Österreich anhängigen Streits um Südtirol. Die Euphorie um die Beilegung eines Konflikts in einem unbekannten Herrgottswinkel mitten in Europa sollte ein Signal der Hoffnung sein. Denn der Balkan stand vor seiner ethnischen Explosion. Wie Südtirol Ende der fünfziger Jahre, als die ersten Bomben hochgingen.

Heute wird Südtirol allgemein als erfolgreiches Minderheitenschutzmodell präsentiert. Delegationen aus den Balkanstaaten, aus Tibet genauso wie aus Palästina oder Papua Neuguinea bereisen das Land, während Italien heute mit Stolz auf die eigenen Leistungen im Minderheitenschutz hinweist.

Südtirol hat mit der Streitbeilegung vor zehn Jahren seine "außenpolitische" Phase, das Ringen um Autonomie und Minderheitenschutz im Spannungsverhältnis mit dem römischen Zentralstaat abgeschlossen. Jetzt steht Südtirols Gesellschaft vor der Aufgabe, eine Kultur des Zusammenlebens zu entwickeln, damit die Autonomie zu einem gemeinsamen Haus für alle Bürger und Bürgerinnen wird.

Südtirols Autonomie ist das Produkt eines politischen Kompromisses zwischen Italien und der deutsch- und ladinischsprachigen Minderheit unter Einschaltung Österreichs als internationaler Schutzmacht der Südtiroler, die auf dem Konkordanzmodell und der Trennung der Sprachgruppen beruht. Das Konkordanzmodell sieht auf der Ebene der Eliten den Einschluss aller Sprachgruppen in den politischen Entscheidungsprozess vor. So muss etwa die Südtiroler Landesregierung entsprechend der Stärke der im Landtag vertretenen Sprachgruppen zusammengesetzt sein, unabhängig davon, dass die Südtiroler Volkspartei (SVP) die absolute Mehrheit besitzt. Dasselbe gilt für die politische Vertretung des Landtages sowie für seine Kommissionen wie auch für die ständigen Kommissionen zur Verhandlung zwischen Staat und Land zwecks Ausbaus der Autonomie. Die Sprachgruppen besitzen im Landtag in ethnokulturellen Fragen auch ein gegenseitiges Vetorecht, auf das bis heute aber noch nie zurückgegriffen worden ist.

Ethnisch getrennter Alltag

Die Besetzung der öffentlichen (Staats- und Landes-) Stellen sowie die Verteilung einer Reihe von Sozialleistungen erfolgt über den ethnischen Proporz, das heißt auf Grund der Stärke der einzelnen Sprachgruppen, die alle zehn Jahre bei der Volkszählung ermittelt wird. Dabei funktioniert der ethnische Proporz nicht nur horizontal, sondern auch vertikal. Dem ethnischen Proporz unterliegt weiters die Besetzung von Stellen in allen öffentlichen Körperschaften. Für den Zugang zum öffentlichen Dienst ist neben der Aufteilung der Stellen nach dem ethnischen Proporz der Nachweis der Zwei-, für LadinerInnen der Dreisprachigkeit erforderlich.

Dem Prinzip der Inklusion auf der Ebene der Eliten steht das Prinzip der ethnischen Trennung der Zivilgesellschaft gegenüber. Der politische Kompromiss sieht beiderseitige ethnische Geschlossenheit und korporative Einordnung vor. In diesem Sinne kommunizieren die einzelnen Sprachgruppen in genau vorgezeichneten institutionellen Kanälen. Diese Trennung durchzieht sämtliche Institutionen und setzt sich in der Praxis des Alltags fort. Es gibt ein ethnisch getrenntes Parteiensystem (eine Ausnahme bilden die Grünen), ein getrenntes Schul- und Bildungssystem, vom Kindergarten bis zur Pädagogischen Hochschule. Es gibt getrennte Kulturressorts, getrennte Kulturhäuser und Vereine, es gibt ethnisch getrennte Volkswohnbauten und Altersheime, ethnisch getrennte Gewerkschaften, Medien und Rettungsdienste. Im Gegensatz dazu sind die wirtschaftlich-kulturellen Eliten des Lande, wie etwa die Mediziner, Rechtsanwälte, Notare oder Architekten, aber auch die Industriellen in einer gemeinsamen Vertretungskörperschaft organisiert. Eine Einmischung seitens der anderen Sprachgruppen ist in der Regel ausgeschlossen.

Konkordanz der Eliten und Trennung der Sprachgruppen bilden die Basis für einen negativen Frieden, den heute immer mehr Menschen in Südtirol durch eine Kultur des Zusammenlebens in einen positiven Frieden umwandeln wollen. Auf dem Wege dorthin haben sich in den letzten Jahren erste Brüche im aktuellen Konfliktregelungsmodell bemerkbar gemacht.

Da gibt es einmal die Diskontinuität bei den italienischen politischen Eliten. Die Democrazia Cristiana (DC) war die traditionelle Koalitionspartnerin der SVP. Beide Parteien vertraten im wesentlichen die Mehrheit der jeweiligen ethnischen Lager. Der Katholizismus bildete ihre ideologische Gemeinsamkeit. Die Erarbeitung der Autonomie und ihre Umsetzung erfolgte im Konsensweg unter Miteinbeziehung einiger laizistischer Parteien. Mit dem Zusammenbruch des alten italienischen Parteiensystems wurde die Nachfolgeorganisation der DC auf eine Kleinpartei reduziert.

Barrieren überwinden suchen

Die Folge davon ist, dass die heutigen italienischen Koalitionspartner der SVP nur mehr etwa ein Drittel der italienischsprachigen SüdtirolerInnen in der Landesregierung vertreten, somit an die 70 Prozent der ItalienerInnen (die zu einem Gutteil die postfaschistische Alleanza Nazionale wählen) aus den zentralen Entscheidungszentren ausgeschlossen sind. Das führt zu neuen Spannungen, weil das Prinzip der maximalen Inklusion aller Akteure ins Rutschen gekommen ist. Dasselbe geschieht mit den LadinerInnen, die sich wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Benachteiligungen in einer eigenen ethnischen Partei organisiert haben. Die Inklusion der Eliten der jeweils anderen Sprachgruppe funktionierte in dem Maße, wie die ethnische und politisch-ideologische Komponente zusammenfallen.

Mit der Konsolidierung des Minderheitenschutzes, des Ausbaus der Autonomie, des Übergangs der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung von einer dominierten Minderheit zu einer dominanten Mehrheit im Lande besteht seitens der Zivilgesellschaft das Bestreben, die institutionellen ethnischen Barrieren zu überwinden, um eine gemeinsame Kultur des Zusammenlebens zu entwickeln. Dieses Unterlaufen der ethnischen Trennung erfolgt derzeit noch auf der Ebene alltagspraktischer Initiativen, Organisationen und Institutionen und bewegt sich mehr im informellen, weniger im formellen Politikbereich.

Der Versuch, diese Barrieren auch in sensiblen Bereichen, wie etwa in der Schule und Kultur, zu überwinden, stößt an ihre politischen und institutionellen Grenzen. Um solche interethnische Projekte zu verhindern, ist auch das Prinzip der Nichteinmischung in autonom verwaltete Bereiche der jeweils anderen Sprachgruppe durchbrochen worden, wenn etwa die SVP der italienischen Sprachgruppe eine zweisprachige Schule vorenthält. Solche Entwicklungen unterminieren langfristig das Konkordanzprinzip. Heute geben alle Sprachgruppen einen positiven Befund über das Zusammenleben ab, fordern aber zugleich einen erhöhten Einsatz der Politik, Anreize zur stärkeren Integration der Sprachgruppen zu schaffen.

"Neuzeit" in der Autonomie

Das Autonomiestatut weist eine doppelte Natur auf. In ihm überlagern sich territoriale und personale Grundsätze. In einer Phase, als es in erster Linie um den Schutz der Minderheit ging, standen die kollektiven Rechte im Vordergrund. Dem Schutz der Minderheit als Gruppe und der substanziellen Gleichheit stehen die individuellen Rechte der einzelnen (unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit) und somit die formale Gleichheit gegenüber. Abweichungen vom formalen Gleichheitsgrundsatz müssen aber gerechtfertigt und begründet, transitorisch und auschließlich auf ihren Zweck hin gerichtet sein. Ist der Zweck erfüllt, sind solche Maßnahmen, die den formalen Gleichheitsgrundsatz beeinträchtigen, nicht mehr legitimierbar. Die Unterordnung unter kollektive Rechte, um individuelle überhaupt in Anspruch nehmen zu können, wird heute von einem Teil der Bevölkerung und sprachgruppenübergreifend abgelehnt.

Südtirols Bevölkerung steht vor neuen gesellschaftlichen Herausforderungen. Konfrontiert mit dem europäischen Integrationsprozess, neuer Einwanderung und Globalisierung hat die "Neuzeit" der Südtiroler Autonomie schon längst begonnen.

Der Autor, gebürtiger Bozner, ist Journalist und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck.

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