„Was muss passieren, damit die Mitte endlich aufsteht?“
Die Autorin und Journalistin Solmaz Khorsand widmet sich in ihrem neuen Buch „untertan“ dem Phänomen des Mitläufertums. Sie erklärt, warum dieses politisch viel stärker in den Blick genommen werden sollte.
Die Autorin und Journalistin Solmaz Khorsand widmet sich in ihrem neuen Buch „untertan“ dem Phänomen des Mitläufertums. Sie erklärt, warum dieses politisch viel stärker in den Blick genommen werden sollte.
„Es gibt nur eine Art, dieses Buch zu beginnen. Mit Ekel. Mit Selbstekel“, das sind die ersten Zeilen des neuen Buchs der Journalistin und Autorin Solmaz Khorsand. Im Gespräch mit der FURCHE erklärt sie, warum niemand vor dem Mitläufertum gefeit ist und wie man die Strukturen hinter dem Konformismus entlarvt.
Die Furche: Ihr Buch handelt „von braven und rebellischen Lemmingen“, wie es im Untertitel heißt. Warum Lemminge?
Solmaz Khorsand: Im Sprachgebrauch werden Lemminge immer als Synonym für Mitläufertum und Opportunismus benutzt. Geschuldet ist dieses Bild dem Dokumentarfilm „White Wilderness“ von 1958. Zu sehen sind Lemminge, die sich auf eine Massenwanderung in die Arktis begeben und in Massen über eine steile Klippe in den Tod stürzen. Wie sich später herausstellte, war die Szene gestellt. Die Tiere sind nicht freiwillig kollektiv in den Suizid gesprungen, sondern wurden absichtlich mit Hunden einen Hang hinuntergejagt. In Wahrheit können Lemminge sehr wehrhaft sein, sie verteidigen sich sogar gegen Feinde, die zehnmal so groß sind wie sie. Deshalb beginnt mein Buch auch mit dieser Ehrenrettung der Lemminge.
Die Furche: Stichwort Feinde: Anfang dieses Jahres hat das Rechtsextremistentreffen in Potsdam eine breite Front des Protests hervorgerufen. Vor allem in deutschen Städten wird seither lautstark demonstriert. Ein Zeichen, dass Widerstand doch noch lebt?
Khorsand: Grundsätzlich begrüße ich die Demos. Es ist gut, dass eine bislang schweigende Mitte der Gesellschaft, die immer als apolitisch wahrgenommen wird, aufsteht und sich gegen rechts auf die Straße traut und versucht, Position zu beziehen. Wenn mich aber jemand fragt, ob das Buch gerade jetzt aktuell ist, dann ist das eine sehr unpolitische Frage. Mein Buch ist das Buch jeder Stunde. Leider. Anderes können nur Menschen behaupten, die nie von Politikern und von den Parteien zu Sündenböcken gemacht worden sind. Oder deren Muttersprache nie permanent zu einem Defizit erklärt worden ist. Oder jene, die sich nicht fürchten müssen, von einer Partei oder einer Regierung deportiert werden zu müssen. Deswegen stehe ich auch den Protesten etwas ambivalent gegenüber, weil ich mich frage: Was muss alles passieren, damit die Ruhigsten auch einmal beunruhigt sind? Was muss passieren, damit die Mitte endlich aufsteht und begreift, dass sie eine Mitverantwortung trägt, wenn sie zu lange still bleibt?
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!