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Industriegesellschaft und Dorf

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Können die Bewohner des „Landes im Gebirge“ eine Industriegesellschaft bilden; ist es nicht'vermessen, einen solchen Begriff für ein Bundesland wie Tirol zu verwenden? Als Antwort auf diese Fragen sei folgende Formulierung angeboten: Tirol ist Bauernland mit einer Industriegesellschaft.

Als ein soziologisches Kennzeichen für diese Gesellschaftsform sei hier die Bevölkerungsstruktur, als ein kulturelles die Verbreitung von Massenmedien und als wirtschaftliches der Fremdenverkehr angeführt.

Die Bevölkerungsstatistik von Tirol weist 1961 nicht weniger als 69°/o der Gesamtbevölkerung den Gruppen „Industrie und Gewerbe“, „Handel und Verkehr“ und „Pensionisten und Rentner“ zu. Jeder dritte Unselbständige in den Landgemeinden ist Pendler. Ja selbst von den 24.745 landwirtschaftlichen Betrieben werden 13.302 zu Nebenerwerbsbetrieben gezählt.

Bei der 14. Tiroler Dorftagung wurde ausgewiesen, daß das Anbot an Lichtspielvorführungen und die Dichte der Kinos etwas über dem Bundesdurchsdhnitt liegen; die Rundfunkteilnehmerzahl bleibt im üblichen Rahmen in beinahe gleichbleibender relativer Dichte über Stadt und Land verteilt, und sogar die Zunahme der Fernsehgeräte in den Landgemeinden bewegt sich durchaus im

Bundesdurchschnitt. Massenmedien sind aber beredter Ausdruck eines Kulturkonsums mit industrieller Prägung.

Ist nun Tirol auch wirtschaftlich gesehen ein Industriegebiet? Nicht der Fabriksschlot prägt dieses Land, sondern der Fremdenverkehr, das Sekundärphänomen einer Massengesellschaft ist spezifischer und bedeutungsvollster Wirtschaftszweig. Die im Fremdenverkehrsjahr 1964 statistisch erfaßte Zahl der Nächtigungen ist gleichbedeutend mit 45.000 „Einwanderern“, die während des ganzen Jahres ihren Wohnsitz in Tirol eingenommen haben. Wieviele Städte mit etwa H Million Einwohnern (Tirol zählte 1961 462.899 Bewohner) weisein eine ähnliche Bevölkerungsdynamik auf?

Trotz dieser Tatsachen hat der Beobachter den Eindruck, daß hier der Unselbständige als Siedler „Land-Wirt“ geworden ist. Und weithin ist Tirol auch heute noch bekannt als das Land, in dem viel Brauchtum beheimatet ist, es ist das Land der Blasmusikkapellen, Schützen und Trachten. Von Fremdenindustrie zu sprechen ist sicher nur vereinzelt berechtigt, der Gast wird in Tirol noch ein Erholungsland finden.

So erlebt dieses Land der Tradition ganz konkret die umgestaltende Dynamik unserer Zeit, und viele Zeiterscheinungen wiederum erfahren die Kraft einer lebendigen „alten“ Kultur. Ich möchte unter Kultur die Summe aller lebensgestaltenden Erscheinungen verstanden wissen, nicht nur Literaturschaffen, Theaterwesen und Brauchtum, wenn auch diese Elemente eine Kultur besonders charakterisieren.

Dorfkultur ist besonders mit den Elementen der Sachwelt verknüpft. Die ländliche Siedlung ist mit ihren Bauten ein beredter Ausdruck dörflichen Kulturschaffens, ist sie doch „offenkundige Aussage von Kraft und Schwäche, Wert und Unwert einer Epoche“ (Geramb, 1951). Die dörflichen Gemeinschaften sind ein weiteres typisches Kriterium der Völkskultur: „Wenn die Festspiele nach einigen Wochen zu Ende gehen, verstummt Sang und Klang. Bei uns aber wird das ganze Jahr hindurch Theater gespielt, musiziert und gesungen“, äußerte Prof. Gam-per in einer Proklamation.

Dazu einige Zahlen: Im bei Österreich verbliebenen Teil von Tirol bestehen 84 Volksbühnen, 288 Musikkapellen (Tirol hat 287 Gemeinden), rund 100 Sängerrunden; dazu kommen als Ausdruck dörflicher Solidarität nicht weniger als 330 freiwillige Feuerwehren und über 200 Schützenkompanien.

Wir finden in Tirol eine Begegnung von kraftvoller Zeitentwicklung — man denke an die Olympiade und an große Bauprojekte, wie Autobahn und Pipeline — und lebensstarker Volkskultur. Während technische Errungenschaften, wie z. B. der Kühlschrank, im entlegensten Haushalt angeschafft werden, findet die Krippenbaubewegung immer mehr Anhänger in Siedlungshäusern; die Jugend, obwohl von Sport und Schlager begeistert, findet sich gerade am Dorf in zunehmendem Maße bei den Schützen und in den Musikkapellen. Erstaunlicherweise werden derartige Erscheinungen nicht als Zwiespalt empfunden.

Die Verflechtung von bäuerlicher Erbsitte und existenzbegründenden Unselbständdgen-Berufen führt zu einer sozial gesicherten Klednbesitzgesellschaft, die auch weiterhin die Grundlage eines traditionellen Tirol sein wird. Dieser strukturelle Hintergrund bestimmt die Entwicklung der Dorfkultur auch für die Zukunft.

Der Fremdenverkehr greift allerdings tief in das kulturelle Gefüge des Dorfes. Er mobilisiert in ungeahntem Ausmaß die Haus-, Wohn- und Siedlungskultur bis zum letzten Bergdorf und oft gerade dort. Gleichzeitig aber konserviert er mit Erfolg die traditionellen Gemeinschaftseinrichtungen. Tracht, Musik und Volkstanz werden bewußt oder unbewußt von den Gästen und der Fremdenverkehrswirtsdhaft gefördert. Die Famdlien-kultur wiederum wird in besorgniserregendem Ausmaß durch den häuslichen Nebenerwerb im Fremdenverkehr gefährdet, weil er die physischen und psychischen Kräfte — besonders der Frau — häufig überfordert.

Während also das Dorf auf breitester Ebene eine erneuerte — aber keine neue — Sachkultur schafft und die traditionellen Gemeinschaftseinrichtungen durch die Freizeitgesellschaft eine unerwartete Bestätigung erfahren, schwinden zentrale Ansatzpunkte einer werterfüllten Dorfkultur in alarmierendem Ausmaß. Die Vielschichtigkeit der Problematik in der Begegnung von Dorfkultur und industrieller Welt mahnt zu Vorsicht in der Beurteilung und Wertung, verlangt aber jedenfalls eine Antwort.

Zwei Folgerungen seien hier gezogen: Zwischen Dorfkultur und moderner Industriegesellschaft bestehen grundsätzliche Unterschiede, aber auch echte, konkrete Berührungspunkte, die eine Möglichkeit zur Synthese ergeben. Voraussetzung für eine solcherart erneuerte Volkskultur ist die Lebendigkeit vorhandener Kulturelemente.

Dem Marsch der Öorfkultur in Richtung auf Folklorismus kann nur begegnet werden, wenn eine echte und bewußte Bildungs-jörderung jene Kräfte wachhält, die sich bemühen, eine sachgerechte Antwort auf die Zeit zu finden. Das Einschwenken der industriellen Welt in eine Bildungsgesellschaft wird diesem Bemühen entgegenkommen.

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