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Reise nach Molybdänemark

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DER REISEPASS MIT DEM VERMERK: „Gültig für alle Staaten Europas“, lag schon in der Hand, um in die Rocktasche zu wandern, blieb dann aber doch zurück. Reutte, der be-. kannte Sommerkurort und Wintersportplatz im Lechtal in Tirol, nach Norden nur sechs Kilometer von der bayrischen Grenze entfernt, 854 Meter hoch gelegen und mit seinen rund 4100 Einwohnern Sitz einer Bezirkshauptmannschaft, kann auch auf einer Fahrt erreicht werden, die nicht über deutsches Gebiet geht. In Innsbruck steht vor dem Hotel „Europa“ schon der Kraftwagen bereit, und der Portier versichert, wir würden über den Fernpaß eine glatte Fahrt und eine gute Aussicht haben. Wir danken für diese Auskunft und rauschen ab; schlängeln uns behutsam eine halbe Stunde später durch Telfs, zweigen rechts ab — links verläuft die Straße zum Arlberg —, fahren über das Mieminger Plateau aufwärts und dann hinter Barwies und Obsteig abwärts in den Kessel von Nassereith. Auf den Bergen liegt prächtiger Pulverschnee. Nun klettert der Wagen nochmals bergwärts zur Fernpaßböhe mit ihren 1209 Metern, noch einige heikle Kurven und dann liegt mit einem Male die Republik (oder ist es ein Königreich?) Molybdänemark vor mir. Kein exterritoriales Gebiet, das am Ende zu Dänemark gehört: die langgestreckten Hallen dort am dunklen Waldrand, die sich von weitem wie Gebäude eines Sanatoriums ausnehmen, die Siedlungshäuser nicht weit entfernt davon: das ist Molybdänemark, Bundesland Tirol. Republik Oesterreich.

MOLYBDÄNEMARK ist eine Wortschöpfung, die nicht von mir stammt. Man kann das Wort übrigens seit einiger Zeit von Buchdeckeln ablesen. Der Begründer des Werkes in Reutte ist nämlich nicht allein wissenschaftlicher Forscher von Weltruf, sondern auch Schriftsteller, der seinen zwei Bänden amüsanter Geschichten den Titel „Geschichten aus Molybdänemark“ gab. Dr.-Ing. Baurat Paul Schwarzkopf, dem ich gleich nach meiner Ankunft in Reutte gegenübersitze, Vater dieser Geschichten, aber auch Vater eines gerade in der neuesten Zeit besonders wichtig gewordenen Industriebetriebes mit 1100 Arbeitern und Angsteilten, eines Unternehmens von Weltruf mit 88 Prozent Exportleistung, dieser Mann ist Altösterreicher und machte alle Stationen österreichischen Geschicks mit. In Prag, wo er 1886 geboren wurde, promovierte er 1910 an der Technischen Hochschule. Damals bereits erhielt er von Nernst in Berlin die ersten Anregungen auf dem Gebiete der hochschmelzbaren Metalle, und schon in jener Zeit erwachte sein Interesse für Wolfram und Molybdän. Da wären wir also beim Molybdän, von dem man in der Schule gelernt hat, es sei ein Schwermetall aus der sechsten Gruppe des Periodensystems, Ordnungszahl 42, Atomgewicht 95,95, spezifisches Gewicht 10,2, zwei- bis sechswertig, Schmelzpunkt 2622 Grad, Siedepunkt etwa 4800 Grad Celsius.

DER WEG DURCH DEN BETRIEB ist fürs erste eine verwirrende Sache. Nicht allein, daß man sich dauernd technische Bezeichnungen und Fachbegriffe einzuprägen hat und — kaum halbwegs sicher im Sattel — schon mit neuen Tatsachen befaßt wird; sondern auch die Weitläufigkeit eines solchen Spezialunternehmens, die beinahe unvorstellbare Verzweigung der Arbeitsvorgänge, die Fülle der Werkstücke, , der Wechsel, der Raumtemperaturen und der verschiedenen Gerüche, das Auf- und Abschwellen der Arbeitsgeräusche, die Gespräche mit den Arbeitern und Wissenschaftlern, die Blicke durch Mikroskope: das rauscht auf und ebbt ab, verzweigt zu Einzeltönen und vereinigt sich zu einem Orchesterklang, zu einer der Melodien unserer Zeit. In dem Wort „Pulvermetallurgie“ liegt etwas von Beckenschlag und Paukenwirbel, von Trommeln und Tuben. Das Wort klingt kriegerisch, hat aber nichts mit Sprengstoff zu tun - es sei denn in übertragenem Sinne: daß die Erfindungen, die man hier machte, den Rahmen traditioneller Werkstoffprobleme sprengten. Die technische Entwicklung der neuesten Zeit — es seien nur die Nutzung der Atomkernenergie und die raketengetriebenen. Flugkörper genannt — ist in hohem Maße von der Lösung der Werkstoffprobleme abhängig geworden, und alles, was noch an zu lösenden Fragen (beispielsweise auf dem Gebiete der, Raumschiffahrt), auf den Wissenschaftler wartet, wird in irgendeinem Sinne mit Reutte, mit Oesterreich und mit dem „Präsidenten der molybdänischen Republik“, Dr. Schwarzkopf, Zusammenhängen. 1921 hat er den Betrieb in Reutte als „Metallwerk Plansee Gmbh.“ gegründet. Fünfzig Menschen arbeiteten damals an der Erzeugung von Molybdändraht und -blech für die Glühlampen- und Radioröhrenindustrie. Der Bedarf stieg durch die nach dem Krieg einsetzdnde Entwicklung der Elektro nenröhren und der Radioindustrie. 1928 19 kam zum Werk von Reutte ein Zweigbetrieb an der Sill, südlich von Innsbruck, dazu. Die Besetzung Oesterreichs führte zur Uebernahme der Gesellschaft durch die Deutschen Edelstahlwerke Krefeld. Bereits 1939 wurde das Werk in das allgemeine Rüstungsprogramm eingereiht (Doktor Schwarzkopf war bereits 1936 nach den Vereinigten Staaten ausgewandert), und 1952 im Rückstellungsverfahren wieder der Leitung des nach Europa zurückgekehrten Industriellen übergeben. Dr. Schwarzkopf hat in den USA als Techniker und Wissenschaftler hohe Anerkennung gefunden — und die Amerikaner sind für gewöhnlich sparsam mit Anerkennungen! 1950 erhielt Dr. Schwarzkopf die goldene Verdienstmedaille vom Stevens-Institut, nachdem er zwei Jahre vorher von der Grazer Technik zum Ehrendoktor ernannt worden war.

DIE PULVERMETALLURGIE IN REUTTE gewinnt in Reduktionsöfen aus Molybdän- und Wolframoxyd das metallische Pulver, das unter Druck in Formen gepreßt und gesintert wird (geglüht unterhalb der Schmelztemperatur). Bei den heute so wichtigen Metallen wie Molybdän, Wolfram, Tantal, Niob oder Rhenium kommt nur das Sinterverfahren in Betracht, und zwar wegen der hohen Schmelzpunkte, der Reduktionsfähigkeit mit Luft und der leichten Verunreinigung durch Ofenatmosphären bei hohen Temperaturen lowie auch wegen der pulverförmigen Beschaffenheit im Ausgangsstadium. Man braucht heute für die Düse eines Raketentriebwerkes und für die Brennkammer entsprechende Festigkeit und Widerstandsfähigkeit bei extrem hohen Temperaturen der Verbrennungsgase. Molybdän und Wolfram sowie deren Legierungen stellen gegenwärtig die besten Werkstoffe für diese Zwecke dar und übertreffen bei weitem alle bekannten Stähle und Sonderlegierungen. Sämtliche elektronischen Steuergeräte enthalten zum Beispiel in Elektronenröhren und Kondensatoren aus Gründen besonderer elektrischer und thermischer Eigenschaften Konstruktionsteile aus Molybdän, Wolfram und gegebenenfalls Tantal. Die Pulvermetallurgie wird angesichts der Zukunftsentwicklung für die friedliche Auswertung der Atomenergie besondere Bedeutung, ja geradezu eine Schlüsselstellung gewinnen. Aber auch zu den modernen medizini-

schen Geräten (Krebsbehandlung), wo mit stark- strahlenden Isotopenpräparaten gearbeitet wird, braucht man die Erzeugnisse aus Reutte, etwa bei der Abschirmung durch gesinterte Wolframiegierungen. Ueberhaupt ist die Leistungsfähig keit der heute so beanspruchten Röntgenapparaturen erst durch die Verwendung von besonderen Wolframanoden in den Röhren wirklich beachtlich geworden. Die baulichen Erweiterungen in Reutte während der letzten Jahre haben die Voraussetzung dafür geschaffen, Stäbe, Bleche und Formstücke in Ausmaßen herzustellen, die für die Atomkernverwertung in der chemischen Industrie und beim Strahlenschutz gebraucht werden.

DAS LIEBSTE KIND in Reutte ist wohl die Forschungs- und Versuchsanstalt, die 1958 gebaut wurde. Hier werden die Ideen („das spürt man in den Fingerspitzen", sagt Dr. Schwarzkopf), oft weit der Zeit vorauseilend, geprüft, eine Arbeit, an der auch der langjährige Mitarbeiter des Industriellen, Dr. Kieffer, Anteil hat. Mit den modernsten Einrichtungen — manches Instrument habe ich in dieser Art nicht einmal in den Forschungsstätten unserer Technischen Hochschulen gesehen — werden durch einen wissenschaftlichen Stab Grundlagenforschung und angewandte Betriebsforschung angestellt. Wir gehen in die Bibliothek — sie würde einer Stadtbücherei Ehre machen — und nehmen dort, von hochragenden Regalen umgeben, die Li&tg der Veröffentlichungen des Metallwerkes Plansee zur Hand. Aus dem Werk selbst nehmen die Titel von 1958 59 allein drei Maschin- schreibseiten in- Anspruch. Die Bibliothekarin gibt mir dazu das Gesamtverzeichnis mit dem Stande von 1958 in die Hand: es sind über fünfzehn Druckseiten.

KEIN BAUM OHNE KNOSPEN. Hierher gehört der neue Schultyp des technischen Zeitalters, die „Techno-Realschule". Wie der mich führende und den ganzen Tag umsorgende Doktor Sedlatschek, selbst ein Fachmann von Rang, beiläufig sagte, gibt es in den Metallwerken nicht allein eine ausgezeichnet funktionierende Lehrlingsanstalt, wo Maschinenschlosser, Elektriker, Werkzeugmacher, Photographen, Röntgentechniker herangebildet werden; sondern Dr. Schwarzkopf hat auch vor rund 7 Jahren mit Unterstützung des Landes, der Gemeinden und des Bundes ein Realgymnasium ins Leben gerufen. „Mein Ziel war und ist es“, so schrieb Dr. Schwarzkopf in der „Industrie" vor drei Monaten, „Absolventen unserer Mittelschule neben dem Maturazeugnis gleichzeitig auch ein Gesellenzeugnis zu verschaffen.“

DIESER MANN DER TECHNIK ist in sinnvoller Weise zugleich ein Mann der Künste. Man braucht sich nur in seinem Arbeitsraum umsehen, durch dessen breite Fenster die Tann- heimer Berge hereinblicken: Gemälde, Zeichnungen, Plastiken sprechen von seinen künstlerischen Neigungen. „Um Erfolg zu haben“, so sagte Dr. Schwarzkopf einmal, „braucht man nicht immer Erfindungen zu machen. Es können auch manchmal Entdeckungen sein, Entdeckungen alter Bilder, Bücher, Kunstwerke." Und das ist nicht zuletzt eines der Erlebnisse im Außerfern, daß Reales und Ideales keine feindlichen Brüder sind, sondern einander entsprechende Hälften eines Ganzen. In den Häusern der Arbeiter und Angestellten, wo über 600 Menschen in eigenen Heimen wohnen, leuchten eben die ersten Lichter auf. als ich von der Höhe in den Kessel von Reutte zurückblicke. Der plötzlich auf gekommene Föhn tollt mit dürren Blättern und wirft spielerisch einige Regenspritzer an die Windschutzscheibe des Wagens.

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