"Der Gott der Liebe nimmt die Angst"

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Eugen Biser, der große alte Mann der Religionsphilosophie, unter anderem Nietzsche-Kenner von Rang, demnächst 85, im Gespräch über die therapeutische Kraft des Glaubens, ein überholtes kirchliches Verständnis von Autorität und das Defizit an genuin christlicher Mystik.

Die Furche: Die Glaubenserwartung vieler Menschen heute konzentriert sich auf die Frage, welchen Beitrag der Glaube für die Bewältigung ihres Lebens leisten kann. Was ist Ihrer Ansicht nach die therapeutische Dimension des Glaubens und wie lässt sie sich vermitteln?

Biser: Jesus hat eine Botschaft vorgetragen. Ich füge allerdings hinzu: Er hatte nicht nur eine Botschaft, er war und ist diese Botschaft. Damit unterscheidet er sich von allen anderen Religionsstiftern. Aber Jesus hat seine Botschaft auch immer therapeutisch begleitet. Die Wunder Jesu sind nichts anderes als eine tathafte Form seiner Verkündigung. Es gibt einen Satz, wo er das mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringt: "Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen".

Die Furche: Worin liegt dabei die therapeutische Funktion?

Biser: Der Mensch ist ein Leidender. Ihm ist eine Todeswunde geschlagen. Man kann den Tod noch so intensiv aus dem Bewusstsein der Menschen verdrängen, er kommt durch die Hintertür wieder herein, er ist unabweisbar. Im Zentrum des Christentums steht die Auferstehung Jesu. Sie ist nichts anderes als das Ereignis der Todüberwindung. Der Tod wird bei Jesus nicht nur im persönlich-individuellen Interesse überwunden, sondern ein Schlüsselwort heißt: "Ich lebe, und auch ihr werdet leben". Durch den Glauben an die Auferstehung kann dem todverfallenen Menschen geholfen werden. Das Sterben bleibt uns nicht erspart. Aber es macht einen tiefgreifenden Unterschied, ob einer stirbt im Zweifel, ob er sich ins Nichts auflöst, oder ob er stirbt im Bewusstsein, den Tod im Grunde schon hinter sich zu haben.

Aber da gibt es noch ein zweites Problem. Denn der Tod hat Vorboten. Er hat den bekannten Bruder, den Schlaf. Er hat aber auch eine viel schrecklichere Schwester, die Angst. Die Angst ist ein vorweggenommenes Sterben. Der Geängstigte hat das Gefühl, in einem bodenlosen Abgrund zu schweben, und das ist nichts anderes als eine Symbolik des Todes.

Die Furche: Gibt es irgendeine Instanz, die dieser Angst des Menschen gewachsen ist und die dagegen aufkommt?

Biser: Ja, das Christentum, wenngleich sich da zunächst eine große Barriere in den Weg stellt. Denn die Christen haben sich geeinigt, eine Pädagogik der Angst über die Menschen zu verhängen, und da sind sämtliche christlichen Konfessionen, so sehr es in dogmatischen Fragen Dissens gibt, einer Meinung: Man muss dem Menschen Angst machen, dann pariert er und unterwirft sich den Direktiven der Kirche; dann wird das kirchliche Leben seine Ordnung behalten. Genau das aber steht in krassestem Widerspruch zu dem, was Jesus gewollt hat, wenn es stimmt, dass das Christentum die Religion der Angstüberwindung ist.

Die Angst hat ein ungemein differenziertes Panorama, es entstehen immer neue Ängste. Deshalb stellt sich die Frage nach den Wurzelängsten. Ich denke man kann drei Ängste als derartige Fundamentalängste ausmachen: Zum einen die Angst vor Gott, die auch den Atheisten behelligt, denn auch der sucht nach einem letzten Halt. Die zweite Wurzelangst ist die Angst des Menschen vor dem Mitmenschen. Denn wir lassen auch den liebsten Menschen nur bis zu einem letzten Sicherheitsabstand an uns heran, weil wir die Sorge und Angst nicht loswerden, dass sich der gewünschte und ersehnte Partner von heute über kurz oder lang in sein schreckliches Gegenteil, in einen verhassten Feind verwandelt. Sie müssen nur die Ehestatistik anschauen, um das bewiesen zu sehen.

Und dann gibt es noch die unheimlichste aller Ängste, das ist die Angst des Menschen vor sich selbst. Kein Mensch kann in einem letzten Sinn für sich einstehen. Weder in rationaler, noch in ethischer, und schon gar nicht in biologischer Hinsicht. Niemand von uns weiß, ob er morgen noch gesund aufsteht. Niemand von uns weiß, ob er morgen noch über dieselbe intellektuelle Kompetenz verfügt. Niemand weiß, ob er unter entsprechenden Belastungen seine Ethik aufrechterhält oder umfällt und ins Gegenteil stürzt.

Die Furche: Was kann das Christentum angesichts dieses Angstpanoramas anbieten?

Biser: Im Zentrum des Christentums steht nicht der ambivalente Gott, der einmal liebt und dann wieder verwirft, einmal tröstet und dann wieder straft, sondern im Zentrum des Christentums steht der Gott der bedingungslosen Liebe. Und dieser Gott der Liebe duldet keine Angst. Er nimmt die Angst vor sich aus der Seele. Dieser Gott könnte gar nicht tiefer gekränkt werden, als wenn man ihn fürchten würde. Dieser Gott, der will geliebt werden und er nimmt uns die Gottesangst aus der Seele. Dasselbe gilt von der Angst gegenüber den Mitmenschen. Hinter dem Satz "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" steht nach Kierkegaard ein anderer Satz: "Liebe ihn als dich selbst". Im Mitmenschen begegnet dir dein Ebenbild. Wenn du ihn annimmst, vollziehst du die Annahme deiner selbst. "Liebe ihn als dich selbst" - das ist die Therapie der zweiten Angst. Der Spitzenbegriff christlicher Anthropologie ist die Gotteskindschaft. Gotteskindschaft ist das Optimum dessen, was der Mensch werden kann.

Die Furche: Welche Lernprozesse sind in der Kirche notwendig, damit die Menschen wieder mehr Verwurzelung im Glauben finden können?

Biser: Vor allem muss der Glaube neu entdeckt werden. Denn die meisten stehen noch im Bann einer Glaubensdefinition, die bis zum Ersten Vatikanum zurückreicht. Dort war Glaube der Gehorsam Gott gegenüber. Glaube, so sagten die damaligen Konzilsväter, ist die vollkommene Unterwerfung des Menschengeistes unter die Autorität Gottes, der weder irren noch lügen kann. Aber dann kam, langsam aber sicher, die Krise, die sämtliche Autoritäten untergraben hat - und auch die göttliche Autorität.

Der kirchenfrömmste Philosoph, den Deutschland hervorgebracht hat, Peter Wust, sagte in seinem wunderbaren Buch "Ungewissheit und Wagnis": "Warum ist Gott oben und warum sind wir unten? Und warum ist er kampflos oben, an der Spitze der Seinshierarchie, während wir uns ewig mühen und quälen müssen in ewiger Daseinsunruhe?" Damit war also die Autorität Gottes hinterfragt, in Zweifel gezogen, und damit verlor der Glaube, so wie ihn das Erste Vatikanum verstanden hatte, seinen Bezugspunkt.

Die Rettung kam aus dem Zentrum der modernen Philosophie. Hans-Georg Gadamer, der unlängst verstorbene Nestor der deutschen Philosophie, hat in seinem großen Werk "Wahrheit und Methode" zwei grundlegend verschiedene Formen von Autorität genannt: Es gibt die Autorität des Machthabers und die Autorität des Lehrers. Der Lehrer hat seine Autorität, um sie zu verschenken. Der Lehrer erreicht sein Ziel, wenn er seine Schüler auf denselben Wissensstand emporhebt, den er selber besitzt. Er gibt also praktisch seine Autorität preis, aber er wird beschenkt durch das, was Gadamer das "Wunder des Verstehens" genannt hat.

Und wenn man jetzt dieses Modell an die Glaubensfrage heranträgt, dann bekommt das Ganze plötzlich ein völlig anderes Gesicht. Dann ist Gott nicht Offenbarung im Sinne dessen, der Herr des Himmels und der Erde ist, sondern im Sinne dessen, den Kierkegaard "Lehrer" genannt hat. Denn er belehrt uns ja, er teilt sich uns mit. Und wenn er das ist, dann will er uns gleichsam auf seinen eigenen Standard emporziehen.

Die Furche: Welchen Stellenwert hat vor dem Hintergrund dieses fundamentalen Wandels die Dogmatik der Kirche?

Biser: Die Dogmen, so wichtig sie sind, sind eigentlich nur im Interesse der Absicherung, der Abgrenzung gegenüber Irrtum und Pseudoreligion gemeint, aber sie sind nicht der Inhalt, sie bergen einen Inhalt. Dieser Inhalt will vom heutigen Menschen neu entdeckt werden. Das ist für mich der Grund, weswegen das Ausufern zur Pseudomystik heute zu registrieren ist. Damit reagieren Menschen auf das zu geringe Angebot an genuiner christlicher Mystik. Im Grunde müsste die Kirche vor allen Dingen Glaubenserfahrung zu vermitteln suchen, dann blieben die Menschen im Bereich der Kirche und würden nicht abwandern zu irgendwelchen Sekten und pseudoreligiösen Einrichtungen.

Im übrigen gibt es noch einen weiteren Umschwung in der Glaubenssituation, die Wende vom Leistungs- zum Verantwortungsglauben. Das "Prinzip Verantwortung", von Hans Jonas entdeckt für unsere Zeit, ist vor allen Dingen ein Prinzip des Glaubens. In der alten Zeit kam es darauf an, durch den Glauben seine Seele zu retten. Heute setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass ich nicht nur meine eigene Seele zu retten habe, sondern dass ich auch für andere verantwortlich bin.

Das Gespräch führten Matthias Opis und Andreas Pack.

Dem Glauben von morgen auf der Spur

Eugen Biser, 1918 geboren, schloss 1946 das Theologie-Studium in Freiburg ab. Danach war er bis 1964 als Seelsorger, Publizist und Religionslehrer tätig. 1956 legte er zunächst die theologische Dissertation bei Bernhard Welte vor, 1961 folgte die philosophische Dissertation bei Karl Löwith in Heidelberg über Friedrich Nietzsche. Nach der Habilitation wurde Biser 1965 zunächst Professor für Fundamentaltheologie in Passau, ab 1969 an der Universität Würzburg. Als Nachfolger Karl Rahners war er dann von 1974 bis zu seiner Emeritierung 1986 Inhaber des renommierten Guardini-Lehrstuhls für Christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie an der Universität München. Seit 1987 ist Biser Leiter des Seniorenstudiums an der Universität München. Die Zahl seiner Publikationen ist nahezu unüberschaubar. In den letzten Jahren veröffentlichte er u. a.: Hat der Glaube eine Zukunft? (1994); Einweisung ins Christentum (1997); Glaubenserweckung. Das Christentum an der Jahrtausendwende (2000). Vor wenigen Wochen wurde ihm von der Universität Graz das Ehrendoktorat für Theologie verliehen, anlässlich dieses Ereignisses wurde das nebenstehende Interview geführt. Am 6. Jänner feiert Eugen Biser seinen 85. Geburtstag.

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