Der Mythos von der ethnischen Reinheit

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Völker als Menschen gemeinsamer Abstammung, das Ideal ethnisch reiner Siedlungsgebiete - Vor- und Fehlurteile aus dem 19. Jahrhundert.

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Völker als Menschen gemeinsamer Abstammung, das Ideal ethnisch reiner Siedlungsgebiete - Vor- und Fehlurteile aus dem 19. Jahrhundert.

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Die Augen des Belgrader Historikers begannen zu leuchten: Einmal im Jahr, so erzählte er, pilgerten die Geschichtswissenschaftler Restjugoslawiens in das Kloster von Studenica, nahe dem Kosovo. Dort ließen sie sich von Mönchen aus alten Folianten vorlesen, um Kraft zu schöpfen - Kraft, um ihren Studenten mit der notwendigen Inbrunst von der Größe und dem Glanz des Serbentums zu künden. "Es war gespenstisch", erinnert sich der Wiener Frühmittelalterforscher Walter Pohl an jene Begegnung mit einem serbischen Fachkollegen zurück - bei einer Exkursion nach Jugoslawien vor acht Jahren, kurz vor Beginn des Krieges auf dem Balkan .

Der serbische Nationalismus, Auslöser des Schlachtens auf dem Balkan, beruft sich auf das mittelalterliche großserbische Reich und dessen Untergang. "Serbien ist überall dort, wo auch serbische Gräber sind", lautet sein Credo, aus der traumatischen Niederlage der Serben bei der Schlacht auf dem Amselfeld (1389) nährt sich sein Feuer. Die ideologische Grundlage für den modernen serbischen Nationalismus bildet ein 1989 veröffentlichtes Manifest der Serbischen Akademie der Wissenschaften. Jüngste Folge des nationalen Wahns ist die Unterdrückung der Albaner im Kosovo, denn diese Region war einst die Wiege des Serbentums: dort nämlich befinden sich die Ruinen ihrer mittelalterlichen Klöster und die Gräber ihrer Helden; heute aber stellen die Serben mit einem Bevölkerungsanteil von zehn Prozent nur mehr eine Minderheit in der Region dar.

Zurück nach Afrika?

"Wissenschaftlich lassen sich aktuelle politische Forderungen nicht auf ethnische Verhältnisse des Mittelalters gründen", weiß Mittelalterforscher Pohl: "Konsequent fortgeführt, würden solcherlei historische Argumente erfordern, daß in Amerika nur Indianer leben dürften, oder gar, daß wir alle nach Afrika zurückgehen und Europa den Nachkommen der Mammuts und Höhlenbären überlassen." Nicht nur das: Die Historiker der westlichen Welt haben mittlerweile erkannt, daß schon jene Deutung des Mittelalters, die zum Beispiel dem serbischen Nationalismus zugrundeliegt, völlig verfehlt ist.

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, hat sich in der Mittelalterforschung ein fundamentaler Wandel vollzogen. Mit der Gründung eines Mittelalter-Forschungszentrums an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften - der "Forschungsstelle für Geschichte des Mittelalters", die von Walter Pohl geleitet wird - macht sich hierzulande der frische Wind auch institutionell bemerkbar. An einem zentralen Arbeitsgebiet der Forschungsstelle läßt sich die Veränderung in der Geschichtsdeutung festmachen: Der Entstehung der europäischen Völker aus den Trümmern des Römischen Reiches.

Es war die Zeit der Völkerwanderung: Damals, so heißt es, verließen germanische Stämme ihre ursprünglichen Lebensräume in Richtung West- und Südeuropa. Schon im 2. und 3. Jahrhundert nach Christus waren die Wandalen und Goten nach Südrußland und in die Karpaten gezogen, die Markomannen, Alemannen und Franken über Donau und Rhein. Der Einfall der Hunnen, einem asiatischen Reitervolk, in Südrußland (375) gilt als Beginn der eigentlichen Völkerwanderung: Die Ostgoten zogen nach Ungarn und weiter nach Italien. Die Westgoten wanderten direkt nach Italien und gelangten schließlich nach Südfrankreich und Spanien. Die Franken übernahmen die Herrschaft in Gallien, die Wandalen zogen eine Spur der Verwüstung bis nach Nordafrika. Mit dem Zug der Langobarden nach Italien (568) schließlich war die Völkerwanderung zu Ende.

Das hier geschilderte Szenario basiert auf der Geschichtsdeutung des 19. Jahrhunderts. Für die damaligen Historiker galten Völker als Gruppen von Menschen gemeinsamer Abstammung und daher mit gleicher Sprache, Kultur und bestimmten Charakterzügen. Die Geschichtsforschung zeigt jedoch, daß diese naive Vorstellung wissenschaftlich nicht haltbar ist. Alle historischen Völker sind aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammengewachsen. In der Geschichte des Frühmittelalters finden sich zuhauf Hinweise auf Menschen, die Zeit ihres Lebens mindestens zwei verschiedenen Völkern angehörten: Es gab Goten, die zu Römern wurden, Goten, die zu Hunnen wurden, ja sogar Römer, die zu Goten wurden. Völker, wissen die Historiker, zeichnen sich nicht durch eine gemeinsame Abstammung oder eine nebulose "Volksseele" aus, sondern durch ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl: Angehöriger eines Volkes ist, wer sich zugehörig fühlt.

Auf ihrem Weg durch Europa assimilierten die umherziehenden Völker haufenweise Menschen. Die Goten zum Beispiel galten als unbesiegbare Krieger; viele kriegsbegeisterte junge Männer unterschiedlichster Herkunft konvertierten daher zum Gotentum. Andererseits wurden viele Goten von der hoch entwickelten Kultur der Römer angezogen. In den Römischen Legionen dienten oft mehr ehemalige Barbaren als "echte" Römer. Unter den römischen Offizieren befanden sich vor allem zahlreiche ehemalige Franken, die bis in höchste Positionen gelangten. Von "ethnisch reinen" Gebieten oder Bevölkerungen kann also im Frühmittelalter keine Rede sein. Das ethnische Reinheitsgebot, seit zwei Jahrhunderten von Nationalisten jeglicher Couleur zur Maxime erhoben, entbehrt jeder historischen Grundlage.

"Zu sagen ,Ich bin Gote, Römer oder Amerikaner' ist das Angebot einer bestimmten Lebenswelt, einer bestimmten Identität", sagt Walter Pohl. Jeder Mensch könne sich für oder gegen ein solches Angebot entscheiden. Natürlich ist das Wechseln zu einer Volkszugehörigkeit ein langer Prozeß - aber zumindest einmal im Leben sei dies durchaus möglich. In diesem Sinn sind bei der Völkerwanderung nicht "die" Goten oder "die" Vandalen gewandert, sondern die gotische beziehungsweise wandalische Tradition mit ihren jeweiligen Trägern. Jene Westgoten zum Beispiel, die um 468 in Spanien Fuß faßten, waren nur zum Teil biologische Nachkommen jener Westgoten, die 375 aus Südrußland vor den Hunnen flohen.

Historische Irrtümer Die Slawisierung Mitteleuropas im 6. und 7. Jahrhundert zum Beispiel hat sich ohne große Kämpfe und Schlachten abgespielt. Das lag daran, daß die slawische Identität für viele Angehörige der Unterschichten anderer Völker ein attraktives "Gegenmodell zu den kriegerischen Identitäten" (Pohl) war, ein Identitätsangebot für einfache, seßhafte Menschen, die ein Leben als freie Bauern unter ihresgleichen schätzten.

Auch mit anderen historischen Irrtümern hat die Mittelalterforschung aufgeräumt: "Germanen" ist heute keine Bezeichnung für ein Volk mehr, sondern nur noch ein nützlicher Sammelbegriff. Denn Franken, Bayern oder Alemannen fühlten sich selbst immer nur als Franken, Bayern oder Alemannen und nicht als Germanen. Goten, Vandalen und Langobarden, nach alter Lesart germanische Stämme, galten nicht einmal bei den Zeitgenossen als Germanen. Die Goten etwa wurden allgemein als Skythen, also als asiatisches Reitervolk, angesehen. Es war die politische Zerrissenheit Deutschlands im vorigen Jahrhundert, die die Germanen zu Vorläufern des "deutschen Volkes" stilisierte: Die "Germanen" waren der leibhaftig gewordene Wunsch nach der staatlichen Einheit. "Frühmittelalterforschung ist immer auch Erforschung der verschiedenen Ideologien der letzten 200 Jahre", sagt Pohl.

Die Verwissenschaftlichung des naiven Volksbegriffs im 19. Jahrhundert hat sich fatal ausgewirkt. Aus der Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung der Deutschen von den Germanen entwickelte sich der nationalsozialistische Rassenwahn, der in die Katastrophe geführt hat. Der Ausspruch Friedrich Nietzsches, die Suche nach den Ursprüngen führe direkt in die Barbarei, hat sich auf das Grausamste bewahrheitet.

Doch der zugrundeliegende Volksbegriff des vorigen Jahrhunderts ist nicht mit dem Dritten Reich untergegangen: Noch heute basieren die deutschen Staatsbürgerschaftsgesetze auf dem Abstammungsglauben.

Die schon vor Jahrhunderten russifizierten Nachfahren der Wolgadeutschen erhalten ohne Umschweife einen deutschen Paß, in Deutschland geborene und aufgewachsene Nachkommen türkischer Einwanderer hingegen gelten nach wie vor als Türken, auch wenn sie besser Deutsch sprechen, als die Sprache ihrer Eltern.

Auch im monströsen Weltbild des Briefbombers spielt die Vorstellung von ethnischer Reinheit und Germanentümelei eine große Rolle. Wie verquer die Vorstellung eines germanischen Österreich aus der Sicht der aktuellen Frühmittelalterforschung ist, läßt sich nur andeuten: Um Christi Geburt lebten auf dem Gebiet des heutigen Österreich keltische Noriker und Pannonier, Illyrer, Sarmaten (ein Reitervolk), germanische Markomannen und Römer, die aus Dutzenden verschiedenen Ländern im Mittelmeerraum stammten. Später zogen Awaren, Goten und Langobarden durch das Land, so mancher von ihnen blieb. Und alle zusammen wurden romanisiert. Im sechsten Jahrhundert kamen Slawen und Bayern in die Region - letztere setzten sich kulturell durch und die Germanisierung setzte ein. Wer bei diesen kunterbunten Verhältnissen von einer "germanischen Rasse" oder einem "deutschen Volk" spricht, dem kann nicht geholfen werden.

"Noch immer wird mit pseudo-wissenschaftlichem Ernst diskutiert, ob Slowenen oder Deutsche zuerst in Kärnten, Slawen oder Ungarn zuerst in der Slowakei waren", ärgert sich Walter Pohl: "In allen Fällen sind schon die Fragen falsch gestellt. Der Mythos von der ethnischen Einheitlichkeit eines Territoriums wurde erst im 19. Jahrhundert erfunden und ist daher zur Untersuchung mittelalterlicher Verhältnisse unbrauchbar."

"Die Frühmittelalterforschung ist ein Laboratorium, in dem sich ethnische Prozesse studieren lassen", sagt der Historiker. Wie das verhängnisvolle Manifest der Serbischen Akademie der Wissenschaften zeigt, können Geschichtsforscher zumindest in eine Richtung viel erreichen - bisher leider in die falsche.

Von 26. bis 28. März organisiert die Forschungsstelle für Geschichte des Mittelalters ein Internationales Symposion, wo über ein Großprojekt der European Science Foundation - "Transformation of the Roman World" - Bilanz gezogen wird. Das Symposion findet im Bildungshaus Schloß Neuwaldegg statt.

Information: (01) 512 91 84/61

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