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Die Revolution von oben

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LEOPOLD II. Erzherzog von Österreich, Groß Herzog von Toskana, König von Ungarn und Böhmen, Römischer Kaiser. Band I: 1747—1780. Von Adam Wandruszka. Verlag Herold, Wien und München, 1863. 450 Seiten, 17 Tafeln. Preis 224 S.

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LEOPOLD II. Erzherzog von Österreich, Groß Herzog von Toskana, König von Ungarn und Böhmen, Römischer Kaiser. Band I: 1747—1780. Von Adam Wandruszka. Verlag Herold, Wien und München, 1863. 450 Seiten, 17 Tafeln. Preis 224 S.

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Dem purpurgeborenen dritten Sohn der großen Kaiserin Maria Theresia aus althabsburgischem und lothringischem Stamm — wohl dem klügsten Regenten, den Österreich seit Ferdinand I., leider nur zwei Jahre lang, besessen hat — ist diese ausgezeichnete Biographie gewidmet. Schon nach der Lektüre des ersten Teiles kann gesagt werden, daß sie ebenbürtig den monumentalen Werken des Russen Mitrofanov über Joseph II. und des Rheinländers Braubach über den Prinzen Eugen zur Seite gestellt werden kann. Der erste Band reicht bis zum Tode Maria Theresias und behandelt so vor allem das Musterregime des jungen Fürsten in der Toskana. In drei Teile gegliedert, werden Jugend und Erziehung, die Lehrjahre des Herrschers in Italien und schließlich das erste Jahrzehnt der Selbstregierung dargestellt.

Leopold ist zeit seines Lebens ein von fast krankhaftem Ehrgeiz besessener Musterknabe gewesen, der seiner Umwelt mißtrauisch gegenüberstand. Die Großfamilie der Kaiserin forderte den Wettkampf der Geschwister fast heraus. Da der Großherzog von ihnen und von der Mutter meist getrennt war, ist ein umfangreicher Briefwechsel vorhanden, in dem der von der Familie mit dem Spitznamen „Doktor“ bedachte Leopold in selbstbewußtem, aber doch liebevollem Ton Sohnes- und Bruderliebe auszudrücken versteht. In scharfem Gegensatz dazu befindet sich das wahrhaft einzigartige Dokument, das der Verfasser zum erstenmal entziffern und vorlegen konnte. Es ist nämlich in einer auf dem englischen stenographischen System basierenden Geheimschrift abgefaßt1. Nach seinem Aufenthalt in Wien 1778/79 schildert Leopold hier Mutter und Geschwister und in zwei weiteren Denkschriften den Zustand der Monarchie und die wichtigsten Staatsbeamten. Vor allem die Geheimschrift wirft ein düsteres Licht auf den Schreiber selbst; sie zeugt von einem morbiden Haß gegen die Umwelt, ja gegen die eigene Mutter. Viele der in monotoner, unbeholfener Sprache geschilderten Einzelzüge mögen sich auf scharfe Beobachtung gründen, in der Gesamtheit sind sie aber grausam verzerrt. In der das gewohnte Bild der idyllischen Familieneintracht, das die Historiker bisher aus der Korrespondenz gewonnen hatten — Nachteiliges wurde da meist weggelassen —, jäh zerstörenden Skizze muß man ein augenblickliches Stimmungsbild sehen, in einem Anfall der Leopold von seinem Vater vererbten Melancholie verfaßt.

Ein äußerer Anlaß zu ihr hat dem jungen, freiliclf oft kränklichen Fürsten, dem glücklichen Gatten und Vater einer ebenso stattlichen wie wohlgeratenen Kinderschar, dem „trefflichen Be- völkerer“, wie der kinderlose Joseph den Bruder spöttisch, aber wohl auch neidisch genannt hat, gefehlt. Der gebildete und erfolgreiche Staatsmann, der allerdings zu früh zu Macht und Ansehen gelangt ist, der unermüdliche Arbeiter und Leser — letzteres im Gegensatz zu seinem Bruder Joseph —, der Förderer des Volksunterrichtes und der Ideen der Aufklärung hat sich den ihm von Europa verliehenen Titel eines Prince philosophe in Anlehnung an den Roi philosophe Friedrich von Preußen redlich verdient. Sein scharfer und klarer Verstand konnte sich in der Toskana trefflich bewähren. In klugen und durchdachten Reformen, die nach zahlreichen Versuchen schrittweise durchgeführt wurden, ist ein von den Gelehrten Europas bewunderter Musterstaat nach den Grundsätzen der französischen Physiokraten entstanden. Vor allem wurden die in Frankreich selbst leider nach kurzer Zeit abgebrochenen Reformen Turgots nachgeahmt.

Dieses Aufbauwerk wollte Leopold mit einer teilweise nach dem Muster der nordamerikanischen Staaten ausgearbeiteten Verfassung krönen. Das Hauptmotiv dazu dürften allerdings weniger demokratische Neigungen als die Sicherung von reaktionären Bestrebungen der Nachfolger gewesen sein. Viel hat hier auch die Opposition zu Joseph II. bedeutet, dessen Kabinettsregierung und dessen überstürzte Reformen von oben herab Leopold stets scharf verurteilt hat. Freilich war die Tätigkeit des Großherzogs ganz

1 Teilweise abgedruckt in der „Furche" vom 7. Dezember, S 111.

der kleinen und verhältnismäßig homogenen Toskana angepaßt. Die riesige Monarchie hingegen mit ihren großen Gegensätzen konnte wohl nur auf dem Weg erzwungener Reformen zu der von allen damaligen Theoretikern ersehnten Einheitlichkeit gebracht werden. Man kann gespannt sein, wie im zweiten Band die Pläne Leopolds für den Gesamtstaat geschildert werden, die durch die Kürze der dem Kaiser noch zur Verfügung stehenden Zeit, durch die ungünstige Ausgangslage und die europäischen Verwicklungen nicht mehr voll zur Ausführung kommen konnten. Nach dem Tod Leopolds hat der alte Fürst Kaunitz jedenfalls behauptet, daß der Verstorbene nur zur Regierung eines kleinen Landes fähig gewesen wäre.

Der Verfasser hat es sehr gut verstanden, alle mit dem Verfassungsprojekt zusammenhängenden, in der italienischen Literatur oft erörterten Fragen in die gesamtösterreichische und europäische Situation zu stellen und ihr damit neue Aspekte abzugewinnen.

Überhaupt bedeutet die genaue Kenntnis der italienischen Literatur und der italienischen Archive, die der Verfasser besitzt, einen der größten Vorteile, den die österreichische Geschichtsforschung aus dieser Biographie ziehen wird. Alle verfügbaren Quellen werden zu einem glänzend geschriebenen Gesamtbild des Herrschers zusammengefaßt, immer wieder durch die reichlich vorhandenen persönlichen Aussagen Leopolds und die Stimmen der Zeitgenossen illustriert. Hier haben sich besonders die in Kärntner Adelsarchiven liegenden Korrespondenzen und die unermüdlichen Tagebuchschreiber Kheven- hüller und Zinzendorf als ergiebig erwiesen. Der Verlag hat sich sehr um eine vornehme Ausstattung bei Format, Einband und Illustrationen bemüht; nur schade, daß keine Farbtafeln beigegeben werden konnten. Rühmend wäre auch hervorzuheben, daß — im Gegensatz zu dem heute eingeführten leidigen Brauch — Titel und Kapitelüberschriften nur nach sachlichen Gesichtspunkten gewählt wurden. In ihnen wird der heute so strapazierte Begriff Europa kein einziges Mal verwendet.

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