Paulus und das Ende des Gesetzes

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Vor dreißig Jahren starb der in Wien geborene Religionssoziologe, Philosoph und Judaist Jacob Taubes in Berlin. Sein Denken kreiste um Fragen der politischen Theologie, um Apokalypse und Politik -eine Schlüsselfigur stellt dabei für ihn der neutestamentliche Paulus dar.

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Vor dreißig Jahren starb der in Wien geborene Religionssoziologe, Philosoph und Judaist Jacob Taubes in Berlin. Sein Denken kreiste um Fragen der politischen Theologie, um Apokalypse und Politik -eine Schlüsselfigur stellt dabei für ihn der neutestamentliche Paulus dar.

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Der gebürtige Wiener Jacob Taubes (1923-1987), der in den 1950er-Jahren an Universitäten der amerikanischen Ostküste gelehrt, 1963 aber den Ruf auf den Gründungslehrstuhl für Judaistik an der Freien Universität Berlin angenommen hatte, war eine schillernde Persönlichkeit, intellektuell sprühend und geistig im höchsten Maß anregend. Viele seiner Verwandten waren ermordet worden, er und seine Familie hatten in Zürich überlebt, wohin der Vater als Rabbiner 1936 berufen worden war.

Viele von Taubes' Vorfahren waren Rabbiner, aber auch begeisterte Anhänger des Chassidismus, der volkstümlichen mystischen Bewegung, die nach 1750 das Judentum Osteuropas zu durchziehen begann. Die Zaddikim (Gerechten), wie die charismatischen Führer dieser Gruppen genannt wurden, lebten an Höfen und gründeten Dynastien. Sie führten Lehre und Leben eng zusammen wie im Judentum zwar üblich, bereicherten dies aber durch Praktiken tiefer Versenkung und eine enthusiastische Gottesverehrung.

Spirituell und aufgeklärt

Ihnen zeigte sich Gott in allen Dingen, die Tora -Inbegriff seiner Offenbarung für das Judentum - erkannten sie als überall wirkend an. Eines der Ziele, das die Chassidim (so der Name dieser Frommen) zu erreichen trachteten, war die Ekstase, hergestellt durch gemeinschaftliches Singen und Tanzen, was zu prophetischen Wachträumen führte und zu Visionen, in denen sie die Seelen Verstorbener, die nicht ruhen konnten, aber auch deren höhere Wurzeln zu sehen erhofften, in der Überzeugung, dann zu ihrer Heilung beitragen zu können. Zu dieser Vorstellung von der Vervollständigung der menschlichen Seele trat die Idee von einer noch weiteren und größeren, die die Schöpfung insgesamt erlösen sollte. Dies alles bildete die spirituelle Welt, in die Taubes geboren wurde und in der er aufwuchs.

Aber es war zugleich die Welt der Aufklärer, die seine Eltern aus den gelehrten Zentren des jüdischen Polens und Galiziens mitgebracht, aber auch in Wien vorgefunden hatten, das in den 1920er-Jahren immer noch eines der Zentren jüdischen Lebens in Europa war. Dort amtierte sein Vater Zwi als Rabbi in der zweitgrößten, aber schönsten Synagoge, dem Pazmanitentempel im Zweiten Bezirk, den Adolph Schramek 1910 gestiftet hatte, ein reicher Kohlehändler und der Großvater einer der Schwiegertöchter Sigmund Freuds, Esti Drucker. Unterstützung fand Zwi Taubes bei seiner Frau Fanny (1899-1957), die am Wiener Hebräischen Pädagogium studiert hatte, dem Institut zur Ausbildung von Lehrern an jüdischen Schulen.

Wie konnte sich nun jemand, der wie Jacob Taubes in einer solch intensiven jüdischen Umwelt aufgewachsen war, die nicht nur dem frommen Erbe, sondern auch den großen Erneuerungsbewegungen so offen gegenüberstand, und aus der er eigentlich auch nicht heraustrat, für den Apostel Paulus begeistern?

In der Dissertation "Abendländische Eschatologie"(1947), in Zürich verfasst, beschäftigte er sich zwar mit den Elementen und Wurzeln des Geschichtsdenkens und der Geschichtstheologie des Westens von der Bibel an. Doch Paulus erscheint hier höchstens unter anderen, er steht in seiner Bedeutung weit hinter Gestalten wie Daniel, Jesus, Johannes. Es geschah wohl in Jerusalem selbst, wo Taubes von 1949 bis 1951 lebte, dass er sich mit den brennenden Fragen nach einem jüdischen Leben ohne Gesetz, die ihn und seine erste Frau, die Schriftstellerin Susan Taubes, umtrieben, an die Briefe des Verkünders des Evangeliums Christi wandte.

Nietzsche, umgekehrt

Gestützt auf Friedrich Nietzsche, jedoch in einer genauen Umkehrung von dessen im "Antichrist" vorgetragenen Argumenten, wird Paulus von Taubes als der politische Theologe schlechthin angesehen. Darüber sprach er auch in der letzten, nur mehr einstündigen Vorlesung, die er im Sommersemester 1986 an der Freien Universität Berlin vortrug und die der Autor dieser Zeilen damals hörte.

Darin ging er auf Nietzsche zurück, der Paulus dafür verantwortlich macht, dass alles, was edel und vornehm, nun zugrunde gerichtet sei. Zum Beleg bezieht sich Nietzsche auf den Ersten Brief an die Korinther. Dieser muss heute wohl als eine Zusammenstellung mehrerer Schreiben gelten, die Paulus an diese von ihm gegründete, nun aber heftig streitende heidenchristliche Gemeinde gerichtet hat. Sie zu einer Einheit zurückzuführen, ist sein erklärtes Ziel, was er gleich im ersten Kapitel dadurch erreichen will, dass er den Brüdern ihre Überlegenheit deutlich vor Augen führt. Denn "das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig sind, ist's eine Gotteskraft" (1,18). Die Brüder sind zwar noch nicht ganz erlöst, aber über die anderen hinausgehoben, und zwar gerade über die Vornehmen, Edlen, Klugen. "Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit"(1,22). Mit Juden und Griechen sind die Intellektuellen der paulinischen Welt gemeint, die Philosophen und Schriftgelehrten, aber auch die Rhetoren Roms. Sie alle verachten die Brüder Korinths in Verkennung dessen, dass Gott hier eine Umkehrung der Werte vollzogen hat. Genau das hat Taubes zufolge Nietzsche als erster erkannt, dann allerdings die falsche Partei ergriffen.

Ein Judentum für alle

Nun rufe Paulus nicht zum Umsturz auf, sondern erkläre mit dem Erscheinen Christi, des Messias, seinem Tode und seiner Auferstehung das Ende dieses Äons für gekommen. Was sich an diesem Weltende ereignet habe, belegt Paulus, der Antiphilosoph, selbst philosophisch, erklärt sich doch jede wirklich revolutionäre Philosophie als das Ende. "Was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist" (1,27). Das, "was nichts ist"(1,28), wird nun zu "allem", und das ist der Schlüsselbegriff des Briefs. Wo aber die Schriftgelehrten zuschanden werden, zählt auch das Gesetz, das sie erklären, nicht mehr, und deshalb sei ein Judentum ohne es notwendig, das eines für alle(s) sei - das die Wendung des Paulus, wie Taubes sie erkannte.

Das Ende des Gesetzes bedeutet nun aber nicht das Ende des Judentums, im Gegenteil. Und mit dem Ende des Gesetzes ging auch keine Befreiung einher, zumal dieses nie Zwang, sondern immer einen schützenden Erinnerungsraum darstellt. Aber mit seinem Ende ist die Möglichkeit gedacht, auch zu den Heiden zu gehen. Erst am Ende werde auch der "Rest Israels" errettet werden, so die prophetische Denkfigur, die im Römerbrief ausgearbeitet wird. Für Taubes besaß sie zutiefst apokalyptische Dimensionen, was nach den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts freilich nicht verwunderlich ist.

| Der Autor ist Mitarbeiter am Zentrum für Literatur-und Kulturforschung in Berlin |

Anlässlich des 30. Todestags von Jacob Taubes (21. März) findet am 6. April, 14 Uhr, im IFK, Reichsratsstraße 17,1010 Wien, ein Workshop "Apokalypse und Politik" statt, den der Autor konzipiert hat.

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