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Literatur, Politik und Moral

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DIE ZERSTÖRUNG DER DEUTSCHEN LITERATUR. Von Walter Muschg. Francke-Verlag, Bern. 347 Seiten. Preis 19.15 sfr.

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DIE ZERSTÖRUNG DER DEUTSCHEN LITERATUR. Von Walter Muschg. Francke-Verlag, Bern. 347 Seiten. Preis 19.15 sfr.

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Walter Muschg, der Basler Universitätsprofessor und Autor der „Tragischer Literaturgeschichte“, hat unter dem aufsehenerregenden Titel „Die Zerstörung der deutschen Literatur“ insgesamt dreizehn monographische Essays vereinigt und seine Grundgedanken in einem Vorwort sowie in einem Titelessay niedergelegt. Das um sechs Studien vermehrte, in dritter Auflage vorliegende Buch handelt von folgenden deutschsprachigen Dichtem: Oskar Loerke, Ernst Barlach (als Briefschreiber und als Dichter), Alfred Döblin, Gerhart Hauptmann, Josef Weinheber, Gottfried Benn, Franz Kafka, Friedrich Schiller und Jeremias Gotthelf. Ein Essay ist Sigmund Freud als Schriftsteller, ein anderer Josef Nadlers Literaturgeschichte gewidmet, „Zerschwatzte Dichtung“ schließlich wendet sich gegen einige modische Interpreten neuerer Literatur.

Muschg selbst bezeichnet sein Buch als eine Folge von Variationen über das Thema Literatur und Moral. Seine These ist: um 1920, bis zum Beginn der dreißiger Jahre, gab es eine echte Literatur in Deutschland, wie sie heute noch in England oder Frankreich existiert. Durch die Diktatur des Nationalsozialismus wurde sie hinweggefegt. „Diese Verschüttung einer ganzen geistigen Generation ist das größte Unglück, das die deutsche Literatur unserer Zeit getroffen hat.“ Muschgs Buch möchte dazu beitragen, daß das Vermächtnis dieser verfemten Dichter trotzdem nicht verlorengeht.

Nach der Machtergreifung im Jahre 1933 begann die Tragödie der Emigranten — und die der Daheimgebliebenen. Für beide hat Muschg gerechte Worte. Das Groteske war, daß die neuen Herren, die so heftig auf die „Asphaltliteratur" schimpften, sich als ebenso betriebsam und auf Karriere bedacht erwiesen. Nur fehlte ihnen eine wichtige Voraussetzung: das Talent, eine gleichwertige, bedeutende Literatur zu schaffen. — Muschg ist natürlich nicht so naiv, diesen politischen Umbruch — der allerdings für viele Dichter verhängnisvoll war und ja auch eine Reihe von Opfern gefordert hat — als alleinige Ursache für die Zerstörung der deutschen Literatur zu proklamieren: „In jenen Tagen stellte sich heraus, daß die moderne Kultur auf Sand gebaut war. Die deutsche Literatur war dem Druck, dem sie ausgesetzt wurde, nicht gewachsen, weil keine geistige Realität mehr hinter ihr stand.“ Heute allerdings ist die Situation noch viel schlimmer: die Machtlosigkeit des Geistes ist, so.jneint Muschg, evident. Er. wird durch die Mächtigen, deren Handlanger die Schalthebel bedienen, ständig mißbraucht. Nach außen haben wir eine literarische Hochkonjunktur, eine Überschwemmung des Büchermarktes mit Neuerscheinungen, von denen einige sogar bedeutende Auflagen erreichen. Aber in Wirklichkeit hat der Dichter seinen Platz in der modernen Gesellschaft verloren. Hierfür macht Muschg vor allem die modernen Massenbeeinflussungsmittel Rund funk, Film und Fernsehen verantwortlich. Sie unterspülen die Kulturfundamente und tragen zu einer rasch wachsenden Ver- pöbelung bei: „Die Massensuggestion ist das ozeanische Element, das unwiderstehlich gegen die Überlieferung andringt und sie zum Einsturz bringt.“

Dies sind die negativen, kulturpessimistischen Aspekte* von denen Muschgs Buch keineswegs frei ist. Aber der Autor stellt auch die Frage: Wie kann der Dichtung wieder zu neuem Rang und Ansehen verhelfen werden? Muschg meint: durch eine Moral, durch ein Ethos, das 'viele Dichter der Vergangenheit hatten, das aber heute selten geworden ist. Denn: „Wir haben erfahren; die Kunst steht diesseits von Gut und Böse, sie kann auch ein Laster sein, Verbrecher können sich ihrer bedienen. Wer das nicht weiß, ist von gestern." Muschg geht in seinem moralischen Rigorismus noch weiter und sagt: „Schönheit allein ist nichts mehr, es kommt darauf an, wer sie schafft und warum er sie erzeugt. Sie liegt auf der Straße . .. wir glauben nicht mehr an sie.“

Natürlich ist' der künstlerische Rang Voraussetzung: aber im Vordergrund stehen moralische Kriterien, nach denen Muschg die einzelnen Dichter und ihr Werk würdigt — oder verwirft. Er tut es in einer klaren, niemals trocken-abstrakten Sprache, mit einem Mut des offenen, subjektiven Urteils, wie man es selten antrifft. So kann es auch geschehen, daß er seinen Lieblingen manches nachsieht und anderen gegenüber zuweilen sehr hart ist. (Barlach zum Beispiel, der nach 1933 unsäglich gelitten hat und an der ihm feindlichen Zeit buchstäblich zerbrochen ist, hat nicht nur viele ergreifende Briefe, sondern auch das Güstrower Kriegstagebuch 1914 bis 1917 geschrieben, in dem er sich als beschränkter Patriot und Bierbankpolitiker erweist und dessen Lektüre eine einzige große Peinlichkeit ist. Von Benn und Nadler weiß Muschg vielleicht nicht genug, um ihren Fall auch menschlich zu interpretieren. Daß Kafka sein

Bestes in einigen frühen Erzählungen gegeben hat, daß dagegen in den großen Romanen „seine Sprache unfrei und monoton, eher verhext, als verspielt, in ein graues Gespinst von Reflexion auseinander-gezogen “ist, dürfte schwer zu beweisen sein, und anderes mehr.) Nur so ist die Laudatio „Freud als Schriftsteller“ zu verstehen: „Er verkörpert die seltene, spontan zu fühlende Einheit von Gehalt und Form, die vielenorts vermißte Notwendigkeit der schriftstellerischen Produktion.“ Nun, Freud war Gelehrter, seine Gesinnung in Ehren, aber hier wäre auch ein kritisches ’ Wort über gewisse monomanische Züge am Platz gewesen. Auch geht es nicht gut an, ihn mit den gleichen Maßstäben wie einen Benn oder Loerke zu messen (dessen Gesinnung zwar die lauterste gewesen sein mag, dessen Gedichte aber infolge ihrer Sprödigkeit wohl kaum jemals den vorausgesagten Ruhm erringen werden).

Obwohl in Muschgs Buch keine Vollständigkeit erstrebt, kein Panorama der neueren deutschen Dichtung gegeben werden soll, vermissen wir trotzdem die ausführliche Würdigung wenigstens eines der großen christlichen Dichter der Gegenwart. Zwar werden viele genannt, aber doch nur en passant. (Auch in der neuen, vor kurzem erschienenen Essaysammlung „Von Trakl zu Brecht“ fehlt gleichfalls diese sehr wesentliche Komponente der Gegenwartsdichtung.) Trotzdem: Walter Muschgs Thesen und seine Ausführungen im einzelnen sind in höchstem Grade lesens- und bedenkenswert. Vor allem kann man mit ihm darin übereinstimmen, daß diese literarische Epoche unbewältigter deutscher Vergangenheit deshalb nicht vergessen werden darf, weil sich die Ereignisse, wenn auch in anderer Form und unter anderen Vorzeichen, wiederholen können, die zur Zerstörung der deutschen Literatur geführt haben. Auch sind wir mit Muschg der Meinung, daß die Zukunft der deutschen Dichtung davon abhängt, „ob sie aus einem Gesellschaftsspiel und einem staatlichen Propagandamittel noch einmal eine Lebensmacht werden kann. Das ist nur möglich, wenn es eine Jugend gibt, die den neuen Ernst des Dichters versteht und annimmt."

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