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Rühms literarische Fenster

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EENSTER. Texte von Gerhard Rühm. Rowohlt-Verlag; Reinbeck bei Hamburg, 1968. 242 Seiten. S 150.-.

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EENSTER. Texte von Gerhard Rühm. Rowohlt-Verlag; Reinbeck bei Hamburg, 1968. 242 Seiten. S 150.-.

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Es hat ziemlich lange gedauert, bis Gerhard Rühm, Herausgeber des Sammelbandes „Die Wiener Gruppe“ und der Texte von Konrad Bayer, einen repräsentativen Band mit eigenen Texten vorlegen konnte. Von der inzwischen legendär gewordenen Wiener Gruppe gehört er nun nach Artmann und Bayer auch für einen weiteren Kreis zur etablierten Avantgarde des deutschen Sprachraumes und österreichischer Herkunft. Oswald Wiener folgt mit seiner „Verbesserung von Mitteleuropa“ demnächst... Eine beachtliche Bilanz für eine Gruppe, die es im eigenen Land nicht einmal zur Narrenfreiheit bringen konnte.

Auf das Gemeinsame der Wiener Gruppe wurde schon oft hingewiesen, es bezog sich vor allem auf die äußere und innere Situation: auf der einen Seite der verbindende Nachholbedarf an expressionistischer, dadaistischer und surrealistischer Literatur in den ersten Nachkriegsjahren, also Information und Erweiterung des durch die Geschehnisse ziemlich eng gewordenen Horizonts, schließlich persönliche Bindungen, Freundschaften — auf der anderen Seite die zunehmende Konfrontation mit einer intoleranten, uninfonmier- ten Gesellschaft, die zwar politisch entnazifiziert war, im Grunde aber noch immer „erprobten“ Kulturvorstellungen nachlhing.

Der Band „Fenster“ zeigt nun erstmals in größerem Umfang und damit leichter übersehbar Rühms unterschiedliche Handhabung und den eigenständigen Einsatz von gemeinsam entwickelten Methoden. Im Gegensatz zu H. C. Artmann, der von der schwarzen Romantik und einem speziellen Surrealismus in Verbindung zur Altwiener Volksstücktradition herkommt, beschäftigen Rühm vor allem konstruktivistische Tendenzen, also das Arbeiten mit der Sprache. Wichtige Punkte dieser Arbeitswege sind für Rühm: die Montage (sie ist in ihren verschiedenen Formen im „Fenster“ am häufigsten vertreten), der Dialekt und sogenannte „Konstellationen“, in denen‘Versucht- wird, den Worten durch bewußte Reduktion Eigenständigkeit zu verschaffen. Durch den Wegfall von „überflüssigen“ Assoziationen (keine Verbindung mit einem anderen Wort) und die Beschränkung auf . einen Begriff soll er ele- mantarer wirken. Das Problem von Inhalt und Form ist auf diese Weise natürlich aufgehoben.

Im gleichen Zusammenhang ist die von Gomringer so bezeichnete und ungefähr gleichzeitig entstandene „Konkrete Poesie“ zu nennen, nach deren Prinzipien Rühm von seinen Wiener Freunden am konsequentesten arbeitete: „...ihre anschau- lichkeit entspricht der zeitgemäßen forderung nach konzentrierter information, die lebenden sprachen werden syntaktisch immer einfacher, in ihrem Wortschatz immer internationaler, es gibt tendenzen der reduktion auf ein sparsamstes grundvokabular wie das basic- eniglish. code-sprachen, die sich auf die notwendigsten Zeichen beschränken. schlagworte, stichworte, Zusammenfassung eines prozesses unter einer bezeichnung. rationellste darstellungsmethoden. allgemeine kleinschredbung, die so wieder mög- lichkeiten zu weiteren differenzie- rungen bietet (gelegentliche groß- schreibung). das Schriftbild, augenfällig, ist von bedeutung, die Ökonomie der mittel, verbunden mit der differenzierung, wird ein ästhetischer prögrammpunkt...“

Vielen Texten Gerhard Rühms merkt man die theoretische Beschäftigung mit Sprachwissenschaft, den Denkmethoden der Neopositivsten (Wittgenstein!) und der Kybernetik an, wenn es auch vielleicht weniger — wie bei Oswald Wiener — um die Auseinandersetzung selbst, als um gewisse Anwendungsmöglichkeiten ging. Seine Spezialität, und das unterscheidet ihn von „mathematisierenden“ Konkreten, ist allerdings, einen Arbeitsgang oder ein Prinzip gerade noch sichtbar zu erhalten. Darin, daß man merkt, wie „es“ gemacht wurde, liegt bereits ein Teil des ästhetischen

Reizes. Ein origineller Text ist „101, eine Zahlendichtung“. Beginnend mit 112 13 4... steigert sich die Zahlenreihe in einem bestimmten optischen und akustischen Rhythmus und versucht, über die Zahl 100 hinauszukommen. In immer neuen Anläufen mißlingt es, und die Zahlen fallen in sich zusammen, um schließlich dem weißen Papier wieder Platz zu machen:

,Handlung erscheint hier reduziert auf eine letzte formel: der in zahlen darstellbaren beziehungen, distan- zen, Proportionen.“ Die Montage ist, wie bereits einmal angedeutet, ein bestimmendes Element im „Fenster“. Die Titel „geschichte“ könnte man eine programmatische Montage nennen.

„aktueller Querschnitt“ nennt sich eine Zeitungsmontage, in der sich Relevantes spiegelt und, wie beispielsweise auch „Sylvias ballkleid“, Fetzen aus einem spezifischen „wirklichen“ Leben (Heirats-, Ver- lobungs-, Bestattungsanzeigen, politische Meldungen usw.) zeigt:

„Dieser Brief war von harter Diktion, denn seine Autoren hatten gesagt, was gesagt werden mußte, angesichts der deutschen Wirklichkeit.“

Mit assoziativen Möglichkeiten arbeitet Rühm ebenfalls auf eine eigentümliche Weise. In „gelachter“ in „Hand“ und „rot“. In „f. a. in Wien“ (Friedrich Achleitner) machen sich in einem monotonen Text, der das Nebeneinander- und auseinandergehen beschreibt, von „Wien“ und „wir“ ausgehend, Begriffe mit „W“ selbständig.

Es ist nicht ganz einfach, bei diesen Texten von Wert oder Qualität zu reden. Gewisse Dinge scheinen erst durch ihre historische Fixierung zu gewffi&e'ri ’ — äie 'fcntsiäiungs ölt ist bei manchen Texten von Bedeutung. Einige Montageeffekte nützen sich möglicherweise zu sehr ab — und es stellt sich die Frage, ob die Längendimension immer stimmt. Gerade bei der „Zahlendichtung“ könnte man meinen, daß das Originäre der Idee und der Reiz dieser radikalen Reduktion in einem ungünstigen Verhältnis der Länge und des Aufwands steht. Anderseits kann man den an sich bekannteren Text „die frösche“ zu trivial und zu wenig originell und konsequent finden.

Weniger Diskussion sollte es bei „Strümpfe fliegen“ („die Strümpfe sind die herren, das fliegen den damen des 20. Jahrhunderts gewidmet“), bei „feuer“ und „küss“ geben. Texte, die wahrscheinlich einmal zum Bemerkenswertesten der österreichischen Literatur der fünfziger Jahre zählen werden.

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