6653037-1959_13_05.jpg
Digital In Arbeit

Aufstand der „Entrechteten“?

Werbung
Werbung
Werbung

Das Mißvergnügen mancher Oesterreicher mit den Koalitionsparteien — ob berechtigt oder nicht, sei dahingestellt — findet unterschiedlichen Ausdruck. Vom grimmigen „Nein” am Biertisch über den un- und überparteiisch Tuenden Ipis zur angedeuteten Parteigründung oder der angedrohten Stärkung der Opposition sehen wir im Land vielfältige Formen einer quasi „innere® Resistance”, die sich seit den letzten Wahlen vereinzelt zu politischen oder pseudopolitischen Gruppierungen verdichtet hat. Beide Regierungsparteien haben diesen Vorgängen nur ungenügende Aufmerksamkeit geschenkt — nun stehen sie als große Fragezeichen vor der Tür der Frühjahrswahlen.

Eine der interessantesten Gruppen unter ihnen sind die „Entrechteten”.

Oesterreich sieht sich heute folgenden Ansprüchen Entrechteter und Geschädigter gegenüber:

Erstens den Reparationsansprüchen aus dem Staatsvertrag; dann den indirekten Reparationsansprüchen der USA, die für eine Reihe von Staatsbürgern eine beachtliche Entschädigung verlangen; weiter gibt es die Entschädigungsansprüche derer, die schon vor 1945 Oesterreicher waren und die einen Schaden erlitten haben, weil sie a) gegen die Nationalsozialisten,

b) für die Nationalsozialisten gewesen sind,

c) weil ihnen die Besatzungstruppen Vermögen entzogen haben.

Dazu kommen die Ansprüche jener, die bis 1945 keine Oesterreicher waren und Ansprüche gegen die Deutsche Bundesrepublik haben, die von dieser nicht befriedigt wurden, so daß schließlich Oesterreich haftbar gemacht wird.

Nicht zu übersehen sind auch noch die Ansprüche der deutschen Voreigentümer aus dem Komplex des „Deutschen Eigentums” und die Forderungen aus dem Staatsvertrag, soweit sie Oesterreicher zu erheben berechtigt sind, etwa’ jene, deren Vermögen von Jugoslawien beschlagnahmt wurde und jetzt von Oesterreich zu ersetzen ist.

Summiert man alle diese Förderungen, die jetzt an den Bund gestellt werden, kommt man zu Beträgen, die in keinem Verhältnis zu den Staatseinnahmen stehen und selbst in Raten das Budget auf viele Jahre hinaus noch schwer belasten.

Die Deutsche Bundesrepublik besitzt nun als traurige Erinnerung an die ersten Jahre nach 1945 einen Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE). Anfänglich vom leidenschaftlichen und durch härteste Not angetriebenen Bemühungen der Flüchtlinge um die Sicherung einer Existenz lebend, ist der BHE heute eine national-liberale Gruppe, die weltanschaulich weithin gesichtslos ist und wenig Aussicht auf einen Weiterbestand hat Auf Bundesebene ist der BHE jedenfalls verschwunden.

Anderę in Oestdrreich. Wir hatten nach 1945 keine politische Gruppierung der Flüchtlinge. Die österreichische Eigenart verstand es, das Flüchtlingsproblem in einer stillen und selbstverständlichen Art so zu lösen, daß sich die überwiegende Mehrheit der nach Oesterreich Eingewanderten bald als Teil unseres Volkes fühlen konnte und keinen Anlaß dafür sah, sich politisch selbständig zu gruppieren.

Dagegen scheint sich nun in Oesterreich eine einheitliche politische Front aller jener herauszubilden, die sich entrechtet oder geschädigt fühlen.

Nach Anspruchsgruppen gegliedert, erheben jetzt viele Aktionsgemeinschaften Forderungen gegen die Regierung, die mit unmißverständlichen politischen Drohungen verbunden sind. Etwa: „Keine Stimme den Regierungsparteien!” Wenn nun vier Parteien vorhanden sind, heißt das praktisch: „Wählt FPOe oder KPOe.” Oder: „Wählt uns, die Vertreter eurer Ansprüche!” Es gibt da die unterschiedlichsten Verbände, Heimkehrer wie Spätheimkehrer, Bombengeschädigte, Besatzungsgeschädigte, die „NS-Geschä- digten”, die „Wohnungsuchenden, Delogierten und Obdachlosen”. Auch die Familienverbände müssen ihre Mitglieder, besonders soweit sie kinderreich sind, als Benachteiligte betrachten.

Alle aber betrachten sich als „Regierungsgeschädigte”.

Alle diese Gruppen verdichten nun ihre Wünsche, provoziert durch Entschädigungsgesetze, die offensichtlich ein Höchstmaß bürokratischer Schikane darstellen und so ausgeführt werden, daß man vermuten muß, die Exekutoren seien im Dienst der Opposition.

Die überraschende Vorverlegung der Wahlen hat die Tätigkeit der Entrechtetenverbände zwar gesteigert, sie aber in der Aufstellung insoweit gestört, als es ihnen kaum mehr gelingen dürfte, sich rechtzeitig als Parteien zu konstituieren. Anderseits aber verwalten nun die einzelnen Verbände Wählerstimmen, Nicht so viele, wie man annimmt, aber doch genug, um in einzelnen Wahlkreisen das Ergebnis merklich beeinflussen zu können.

Warum gibt es aber in Oesterreich gerade jetzt eine Konzentration der Entrechteten, jetzt, 14 Jahre nach Beendigung des Krieges? In einer Zeit, in der wir eine Wohlstandshöhe erreicht haben, die zu gewinnen wir nie erwarte’ hatten?

„Not” ist ein relativer Begriff. Angesichts des „österreichischen Wirtschaftswunders” und des aufreizend unbekümmert in unserem Land demonstrierten Luxus entsteht bei vielen der nicht unberechtigte „Nachziehwunsch”, den aber nur der Staatssäckel erfüllen kann. Es ist bei vielen das Gefühl einer „relativen Verelendung” entstanden. Fast allen Oesterreichern geht es erheblich besser als vor 193 8, einer nicht unbeachtlichen Gruppe geht es aber ganz besonders gut, was sie stolz bei allen möglichen Anlässen zur Schau stellt, während andere sich durch das Luxusgehaben deklassiert fühlen.

Ursprünglich entstanden Wirtschaftsparteien nur, um Gewinne oder Löhne zu sichern oder ihre Steigerung zu erreichen. Heute aber gibt es auch noch Rentenparteien, wobei die „Renten” vor allem jenen Bedarf decken sollen, den die „Privilegierten” auš ihrem normalen Einkommen sichern können. Angesichts der Großzügigkeit, mit der man bestimmte ausländische Ansprüche befriedigt, ist die Ansicht vieler Geschädigter keineswegs unberechtigt, daß genug Mittel verfügbar sein müßten, um ihre Ansprüche zu decken. Nicht sukzessive, sondern sofort.

Praktisch und vor allem wegen der Kürze der verfügbaren Zeit wird es den Vertretern der Geschädigten kaum möglich sein, eine Partei zu bilden. In ihrer überwiegenden Mehrheit werden die Aktivisten der Interessentengruppen wohl die FPOe wählen, die es als Oppositionspartei, unbelastet von aller Regierungsverantwortung, verstanden hat, sich als Anwalt der Geschädigten hinzustellen.

Auf diese Weise werden Ideen mit Interessen verbunden. So hat die FPOe die Chance, nicht nur die „Ehemaligen” zu vertreten, sondern auch die Nationalliberalen und manche Unzufriedenen, die sich als „bürgerlich” fühlen.

Freilich: Bekennen die Geschädigten „Farbe” und erweisen sie sich selbst als eine verdeckte Partei oder als Teil einer Partei, so verlieren ihre Forderungen an Gewicht und sind die einzelnen Verbände, die nun einmal Anhänger auch der Regierungsparteien in ihren Reihen haben, zum Absterben verurteilt.

Den Regierungsparteien, auch denen von morgen, sollte aber der massive Aufbruch der Geschädigtengruppen sagen, daß es neben dem offiziellen Elend und dem offiziellen Proletariat noch anderswo Elend und Entrechtung gibt, bei den Kinderreichen, bei den Enteigneten des zweiten Weltkrieges und bei jenen Kriegsbeschädigten, die nicht mehr in einen ordentlichen Beruf finden (könnten.

Wenn man dies nicht beachtet, kann wieder ein Proletariat besonderer Art entstehen, eine Gruppe von Deklassierten, die nur in einem neuen „Umbruch” die Möglichkeit sieht, an der allgemeinen Wohlfahrt Anteil zu haben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung