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Das Buchstabenrecht des Fiskus

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Die Legislatoren, die das Schillinggesetz vom 30. November 1945 redigieren mußten, und auch diejenigen, die genau zwei Jahre später über Österreich das Währungsschutzgesetz verhängten, haben wahrlich im Schatten gekämpft. Die damaligen Eingriffe in das Eigentumsrecht der Staatsbürger ließen an Radikalismus nichts vermissen. Viele der Wunden, die sie schlugen — auch der „Geist des Gesetzes“ wurde zutiefst verletzt —, sind noch heute kaum vernarbt. Und trotzdem kann man den Männern, die diese Gesetze promulgierten, den Respekt nicht versagen, denn sie haben sich damals mit ihren Maßnahmen, die keinem einzelnen zuliebe und jedem zu leid waren, der bitter ernsten Lage unseres Landes willen bewußt vor die Räder geworfen. Wie sehr man auch vielleicht über das Gebot der Not hinausging, so wurde doch durch das Schillinggesetz ein wesentlicher Erfolg erzielt. Er hat dem Aufstieg der Wirtschaft des verwüsteten Österreich aus dem unheimlichen Zustand des Stillestehens und der Verzweiflung den Boden bereitet.

Dieser Erfolg hat jedoch nichts zu tun mit dem Streitpunkt, der durch die zwei Grazer Sperrkontenprozesse vor die Öffentlichkeit gestellt wurde. Der ominöse 13 des Schillinggesetzes zeigt eine Anwandlung von sozialer Gesinnung. Die auf sich selbst Angewiesenen, die aller Mittel entblößt waren, sollten in diesem kritischen Augenblick, in dem niemand Bargeldkredit erhoffen durfte, vor dem Äußersten bewahrt werden; in Fällen, wo kein zum Lebensunterhalt ausreichendes Einkommen vorhanden sei, konnten Rückbuchungen sonst verfallener Guthaben angesprochen werden. Für alle Lohnempfänger und Angestellten kamen diese Begünstigungen nicht in Betracht, denn den Betrieben wurden die Mittel zur Bevorschussung der Löhne und Gehalte im gleichen 13, 2 a, bewilligt. Als Kriterium der Begünstigung Selbständiger aber wurde das Fehlen eines ausreichenden Einkommens stipuliert,

Hier setzt nun der Konflikt mit dem Gerechtigkeitssinn des Volkes ein. Natürlich meinte der Gesetzgeber das faktische Fehlen eines wirklichen, eines effektiven Einkommens. Nach den Auffassungen, welche die als Zeugen in Graz vernommenen hohen Beamten des Finanzministeriums als amtliche Regel vertraten, war als „Einkommen“ nur das „steuerliche“ zu verstehen; hatte ein Steuerträger, der ein vermögender Mann war, den Vorteil für sich, daß er Plünderungsschäden und sonstige legale Abzugsposten in seinem Einkommensteuerbekenntnis über das Jahr 1945 in solchem Ausmaß hatte anführen können, daß kein steuerpflichtiges Einkommen übrigblieb, so konnte er trotz auch großer Wohlhabenheit auf Rückbuchungen aus seinem beschlagnahmten Sparguthaben Anspruch erheben. Und so geschah es auch mit Erfolg im Falle eines Grazer Großkaufmannes, der zwar für 1945 kein steuerpflichtiges Einkommen zu fatieren hatte und doch in seinem Lebensunterhalt nicht gefährdet war. Die Vertreter des Finanzministeriums bestätigten den Standpunkt des Leiters des Grazer Finanzamtes als richtig, daß nach der Rechtspraxis der staatlichen Finanzverwaltung in diesem Falle, und wo immer von „Einkommen“ die Rede sei, darunter das „in buchstabentreuer Auslegung des Gesetzes“ das „steuerpflichtige Einkommen“ und nichts anderes zu verstehen sei. Der Grazer Richter hat aus dem Herzen des Volkes gesprochen, als er sagte: „Man geht doch am Leben vorbei, wenn man sich auf reine Formalitäten stützt.“ Auch wenn ein Zeuge aus dem Finanzministerium feststellen konnte: „Aus der Praxis der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zu ersehen, daß die Gesetze in Österreich in erster Linie buchstabentreu auszulegen sind“, so ist beizufügen: Wohlverstanden „in erster Linie“. Auslegung nach dem bloßen Wortlaut des Gesetzes, die dem „freien Ermessen“ keinen Spielraum für Erwägungen der Billigkeit und der sozialen Gerechtigkeit läßt, galt nie als vorbildlich, auch nicht zu einer Zeit, in der unsere hohen Gerichtshöfe mit Recht annehmen durften, daß die kristallklaren Formulierungen unserer Gesetze es ausschlössen, daß ihre Anwendung zu „glattem Unsinn“ führt, um mit einem Wort des Grazer Vorsitzenden zu sprechen.

Hier sind wir bei der warnenden Tatsache angelangt, die diese beiden Prozesse aufscheinen lassen: demMangel sprachlicher Präzision der Texte so mancher neuerer Gesetze und Gesetzentwürfe, und — nicht bloß der sprachlichen. Die gelehrsame, peinliche Sorgfalt, mit welcher in der Monarchie das Innenministerium jeden Entwurf vor seiner Einbringung ins Haus prüfte, bleibt Vorbild. Bei einer sorgsamen Fassung des 13 hätte es der Aufmerksamkeit nicht entgehen können, welche Bevorzugung dem vermögenden Steuerträger eingeräumt wurde, als man für ihn Rückerstattungsansprüche offen ließ zur selben Zeit, da man den kleinen Mann mit harter Hand anfaßte. Man kann der Anschauung des Vertreters des Finanzministeriums nicht beipflichten, daß zu einer Präzision, die dies verhindert hätte, kein Anlaß bestanden habe, denn es habe sich da um einzelne, „fast unmögliche“ Fälle gehandelt, in denen etwa vermögende Steuerträger soviel abschreiben konnten, daß kein steuerliches Einkommen übrigblieb.

Der Grazer Fall und noch einige derselben Herkunft waren aber doch möglich. Sie sind verletzend genug und bleiben eine nachdrückliche Erinnerung: das Verstehen des Volkes für die schwere und verantwortungsvolle Aufgabe der staatlichen Finanzverwaltung und deren Autorität werden um so größer sein, je deutlicher auch der fiskalische Apparat den Gesetzen des Lebens gehorcht und nicht bloß dem toten Buchstaben.

Einen schönen Lichtblick boten aber diese beiden Prozesse doch audi. Leicht hätten die beamteten Zeugen, unbeschadet ihrer sachlichen Aussagen, sich ein wenig herausstreichen, leicht hätten sie nach billiger Popularität haschen können, wenn sie den entgleisten Kameraden den Eselstritt erteilt hätten. Das haben sie verschmäht und kavaliermäßig das Risiko nicht geringen öffentlichen Mißfallens und heftigen Widerspruchs auf sich genommen. Und das war „gut österreichisch“.

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