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Das Ende des „Mythos“

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Kürzlich haben Serge Lang und Ernst von Schenk die „Erinnerungen“, die der ehemalige Reichsminister Alfred Rosenberg während seiner Haft in Nürnberg niederschrieb, im Verlag Zollikofer, St. Gallen, herausgegeben, versehen mit eingehenden, von großer Sachkenntnis zeugenden Kommentaren. In diesen „Memoiren“ versucht der „Dogmatiker“ und „Beauftragte für die weltanschauliche Schulung“, dessen „Mythos des 20. Jahrhunderts“ feierlich als das Kredo des Nationalsozialismus in das Fundament des Nürnberger Parteipalastes eingesenkt worden war, nochmals darzutun, daß seine Formulierung „die Antwort auf die Frage eines Jahrhunderts“ und „eine echte soziale Weltanschauung und ein Ideal blutbedingter kultureller Sauberkeit“ gewesen sei. Zweifellos waren diese Erinnerungen als Rechtfertigung seiner eigenen Handlungen vor dem Nürnberger Tribunal gedacht. In seinen Erinnerungen findet sich in einem ganzen Kapitel ein idealer NS-Staät der Zukunft geschildert, der durch die Erfahrungen menschlicher Unzulänglichkeit geläutert ist. Es ist daraus eine Art demokratischer Faschismus geworden, wobei Rosenberg zwar den im faschistischen System folgerichtigen Staatstotalitarismus ablehnt, aber trotz scheinbarer Kompromißbereit-sdiaft von den Fundamenten seiner Anschauung nicht abwich. Es steht vor uns die Frage: Was gehen uns die Reflexionen Rosenbergs heute an? Sein „Mythos des 20. Jahrhunderts“ war sdion sofort nach Ersdieinen als ein erschütterndes Mixtum compositum aus Phantasie Vorurteil, mißdeuteten oder mißverstandenen Buchzitaten und Unwissenheit enthüllt worden. Trotzdem war die Wirkung seines Buches in einer Zeit hysterischer Erregungen von verheerender Wirkung. Mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches sind die Vorausssetzungen für ein Wiedererscheinen ähnlicher Ideologien nicht aus der Welt geschafft. Die Herausgeber erklären deshalb, daß sie mit dieser Veröffentlichung und ihrem Kommentar vor Wiederholungen Roscnbergscher Art warnen/ wollen, die immer dann möglich sind, Wenn der gefährlichste aller Triebe, der Machttrieb, eine leidenschaftliche Parteiung zum vernünftigen Denken unfähig macht. Der Rassismus steht in inniger Wechselbeziehung mit dem wild und absolut gewordenen Nationalismus des 20. Jahrhunderts. Es gilt, sich mit diesem Kern des faschistischen Denkens auseinanderzusetzen. Rösenberg lehnt den Polizeistaat ab, spricht anklagend von einer „Polizei des Himmlcr-Heydrich“. Er nennt Hitler einen „von seiner Idee abgefallenen Führer“, dennoch kann er sich von ihm nicht loslösen. Er zeigt in den polemischen Teilen seiner Erinnerungen, warum das Dritte Reich unter dem Diktat der Männer, die immer ausschließlicher seine Machthaber wurden, entarten mußte. War aber außer gerade in dieser Form der „Entartung“ zur totalen Macht ein Regime möglich, wie es Hitler und Rosenberg wollten?

Wir blidven zwischen den Zeilen dieser Memoiren in das Innere des monströsesten Gebildes der Geschichte: des Dritten Reiches. Der Blick ist lehrreich für alle Zukunft. — Rosenbergs Werdegang ist wesentlich bestimmt durch seine Feindschaft gegen das

Christentum. Das bringt er auch noch in seinen Memoiren deutlich genug zum Ausdruck. Von Kardinal von Galen, jenem „stärksten Gogner“ des Nationalsozialismus, dessen Offenheit und Mut auch der Feind, wenn er .ritterlich ist, achten mußte, redet er häßlich, Galen sei durchaus nicht ruhig und gelehrt gewesen, „sondern böse, nicht mehr die Menschen und Geister kommandieren zu können“. Jeder kleine Vorfall einer Revolutionsperiode wurde grell beleuchtet; daß eine andere Zeit anders, auch ihrem Gewissen entsprechend denken und handeln wollte, bedeutete ihm (Galen) eine Blasphemie. Es waren für Rosenberg „kleine Vorfälle“, wenn die „Euthanasie“ die Krankenhäuser verheeren und in Mordstätten verwandeln durfte, ungezählte Tausende in die Gaskammern wanderten und die Greuel der KZ den Protest des heldenmütigen Bischofs herausforderten.

Im letzten Kapitel seines „Mythos“ sieht Rosenberg „eine einzige, aber alles entscheidende Umwandlung unserer seelischen Haltung vollzogen, und ein neues, funkelndes, herrliches, lebensvolles Zentrum unseres Daseins — diesen neuen und doch alten Blutmythos in beseligende Wirksamkeit getreten“. Was daraus wurde, können die Überlebenden heute nachprüfen.

Das Furchtbare, das durch diese „Bekenntnisse“ eines Ncuheidcn offenbar wird, ist der totale Verlust des Gewissens. Keine Spur von Reue zeigt sidi in Roscnbergs Nachlaß über das von ihm mitverschuldete Massenelend der Austreibungen, Verschickungen und Exekutionen Hunderttausender während seiner Amtszeit als Ostminister. Sein Tod, an den er bis zuletzt nicht glauben wollte, war der Tod eines Neuheiden. Mit versteinerter Miene betritt er die Stiege zum letzten Gericht. Einem unbegreiflichen Schicksal ohne Sinn und Inhalt ausgeliefert. In ihm und um ihn ist das Nichts.

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