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Die Jungen - einst und jetzt

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50 Jahre nachdem „Freideutsche Jugend“ auf dem Hohen Meissner bei Kassel versuchte, sich auf eine Formel für die gemeinsame Gestaltung ihres Lebens in den Kleinstgruppen der Bünde zu einigen, ist nach den vielen Monographien über die Jugendbewegung nunmehr in zwei Büchern die Summe angesichts der Erfahrung gezogen worden: „Grundschriften der deutschen Jugendbewegung“, herausgegeben von W. Kindt (Eugen-Diederichs-Verlag, Düsseldorf-Köln, 566 Seiten, Preis 32 DM), und „Die Jugendbewegung“ von E. Korn / O. Suppert I K. Vogt (Ebda, 256 Seiten, Preis 14,80 DM). Die beiden Bücher ermöglichen es, das Phänomen der Jugendbewegung in einer Rücksicht und als historisches Faktum zu interpretieren. , • .

Die Jugendbewegung in der Form, wie sie sich auf dem Hohen Meissner in den Oktobertagen des Jahres 1913 zu manifestieren und sich selbst zu verstehen suchte, ist ein historisches und außerdem — wenn wir von Israel absehen — ein deutsches Phänomen. Erstmals war eine Jugend, vor allem Schüler und Universitätsstudenten, bemüht, sich eine eigene Konstitution zu geben und sich als eine gesellschaftliche Großgruppe zu begreifen. Freilich war der Grund, der mehrere Tausend veranlaßte, sich 1913 auf dem Hohen Meissner zu versammeln, kaum mehr als ein Protest abstinenter Jugend, die, anders als die „Spießbürger“, das Gedenken an die Völkerschlacht bei

Leipzig zu feiern gedachte, ohne hohl-vaterländisches Pathos, ohne Bier und auch ohne Achtungsmarsch.

Die Jungen, die sich in der Jugendbewegung bündischer Art eine Eigenverfassung und daher ein Eigen-rechX gegebnen*1 hatten*s, begriffen! das Wagnis, einfach das Jungsein zum konstitutiven Element bei Bildung ihrer gesellschaftlichen Großgruppe zu deklarieren, während soust Beruf und Stand (Abkunft) gruppenbildend gewesen waren. Wohl gab es in der Geschichte die Führungsform der Gerontokratie vermöge rechtlicher und ökonomischer Privilegierung, nie aber'den Anspruch der Jungen auf Selbstführung.

In einer einmaligen geschichtlichen und sozialen Situation, wie sie um die Jahrhundertwende und bis 1914 im wilhelminischen Deutschland bestanden hatte, konnte sich die deutsche Jugend als Eigengesellschaft vom Rest der Gesellschaft abschließen. Nicht in einer Dokumentation alters-schichttypischen Verhaltens, das jede Zeit kennt, sondern, indem sie einen Katalog von einmaligen Chancen reflektierte, wie sie sich nie mehr darbieten sollten:

Der greisenhafte Patriarchalismus, markant in der Männermode angezeigt, wies sich in einer despotischmilitanten Form aus und ließ den jungen Menschen, den Schülern der höheren Schulen vor allem, die gesellschaftliche Ordnung als sinnloses Gerüst von überlebten Hierarchien erscheinen. Wieweit eine besonders intensiv gewordene Schulabneigung durch den Willen zu bündischer Integration sublimiert wurde, kann heute nicht mehr festgestellt werden. Offenkundig war auch die Schule der Zeit von ihren „Konsumenten“ als eine Kleingesellschaft empfunden worden, die sich in nichts von despotischen Führungsweisen der großen Gesellschaft unterschied.

Das Mißverhältnis von Demokratie in der Gesellschaft und einer zeremoniellen Despotie in Familie und Schule verdichtete sich um die Jahrhundertwende. Was den Volljährigen, auch bereits den „Proleten“, gestattet war, das Dabeisein in der Gesellschaft, die Chance einer Selbstgestaltung des persönlichen Lebens, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, war den Jungen nur in Andeutung zugestanden worden. Die Relation von Erwachsenen zur Jugend war ein verdecktes Pflegschaftsverhältnis. Die Freiheit erwies sich als eine Freiheit der Alten, der Despoten, der Väter, der Schulmeister und der Pastoren.

Daher der ungestüme Aufbruch aus der Welt der Erwachsenen in ein Eigenreich, dessen pädagogische Dimensionen einer systematischen Untersuchung wert wären, daher die substanzlose Kompromißformel liberaler bis anarchistisch gesinnter Jugend, die, als „Schwurformel“ klassifiziert, ein Dokument der Ungeduld war, niedergeschrieben in der Großartigkeit einer Jugend, die da meinte, nur mehr sich allein verantwortlich sein zu müssen. Ein Jahr später stürmten die gleichen Jungen bei Langemarck gegen die Geschoßgarben der Engländer und liquidierten im Sterben eine Periode, die 1896 im Urwandervogel begonnen hatte und geeignet schien, so etwas wie ein „Jugendreich“ zu konstituieren.

Die Formel vom Hohen Meissner war kein Bekenntnis, sondern literarischer Protest gegen eine Welt, der man sich durch Absenz entziehen wollte, gegen eine Welt, die sich nur mehr in Trinksitten und nichtssagenden Konventionen darzustellen vermochte. Aber auch gegen die Welt der Fabriken, gegen die Welt der Fabriksstädte, die „Häuserquadern“, in deren Regionen man nur auf die Maximierung der Gewinne und auf die korrekte Ausübung von Ämtern bedacht war. Die Jugend, die sich als „bündisch“, auf die Surrogatfamilie der Gruppe fixiert, verstand, verließ diese Welt, die wohl die der Väter, aber nicht die ihre war. Ihr Wandern war Flucht nach vorwärts, eine Fahrt zu den Ursprüngen, die man in der stadtfernen Natur zu finden hoffte. In der „reinen“ Natur, fern den Standorten der „schmutzigen“ Tech-

So entwuchs aus dem Protest gegen die Welt der Väter, einer wild-romantischen Flucht aus der offiziellen Gesellschaft (die auch eine der Produzenten war), im Rückblick die Jugendbewegung, der wir zumuten, daß sie ein Homogenes war. Wohl war die Jugendbewegung einmal ein einheitliches Gebilde gewesen, aber nicht im Ursprungsland, sondern in Israel, wo sie sich in den vielfältigen und kühnen Experimenten der Landnahme und der Kultivierung des Landes bewährte.

Die Jugendbewegung war wohl „Bewegung“, aber nicht als ein Ganzes, sondern höchstpersönliche Eigenbewegung, eine Addition von Individualisten, die sich gerade noch in Kleinstgruppen (den „Bünden“) zu integrieren vermochten, in deren Bereich als einer Primärgruppe das Intimverhältnis der Familie, die man verließ, einigermaßen erhalten schien. Tatsächlich aber war, verfolgt man die Dokumentation von Kindt, die Jugendbewegung der klassischen Zeit (bis 1914) eine anarchische Angelegenheit, ein unverbindliches Kooperieren von vielen auf Zeit. Auf diese Weise vermehrte sich die Bewegung einfach durch Teilung. Der Dissidentismus war das einzige erkennbare dynamische Organisationsprinzip. Niemand verlangte auch ein Kon-tinuum, so etwas wie eine bleibende Organisation. Gerade der Organisation der Gesellschaft wegen war man dieser entwichen! Jeder ließ daher in den Gemeinschaften von „Knaben und Jünglingen“ dem anderen ein volles Maß an Freiheit.

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