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Das Recht zum Nein

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Karl O. Paetel ist den Lesern der „Furche“ als ständiger Mitarbeiter aus den Vereinigten Staaten wohlbekannt. Wenige dürften aber wissen, daß es noch einen „anderen“ Karl O. Paetel gibt. Den jungen Mann, der in den Krisenjahren der Weimarer Republik als Schreiber und Täter in der vordersten Reihe jener Richtung der Jugendbewegung stand, wo man sich um einen Brückenschlag zwischen Nationalismus und Sozialismus bemühte. Unter dem etwas verallgemeinernden Namen „Nationalbolschewismus“ ist jene Richtung in die politische Geschichte eingegangen.

Karl O. Paetel aber wählte nach Hitlers Machtergreifung den Weg in die freiwillige Emigration, wo er nach Jahren der Wanderschaft und des unermüdlichen Kampfes gegen Hitler und sein die Ideale der Jugendbewegung pervertierendes Reich in den USA eine neue Bleibe fand. Die Erlebnisse und Erfahrungen von drei Jahrzehnten — und was für Jahrzehnte! — konnten nicht ohne Auswirkungen auf die innere Einstellung eines in den Traditionen der Jugendbewegung aufgewachsenen hellwachen Menschen bleiben. Paetel, der in jungen Jahren einmal dort stand, wo die extreme Rechte dem linken Radikalismus begegnen wollte, spricht heute ohne Einschränkung und Vorbehalt der Demokratie das Wort. Einer Demokratie allerdings, welche die Worte „persönlicher Einsatz“ und Ethos nicht ihren Gegnern überläßt.

Aus dieser Geisteshaltung ist auch die vorliegende Schrift entstanden. In der alten Terminologie der Jugendbewegung nennt der Verfasser „Randbemerkungen“, was in Wirklichkeit eine tiefgehende Auseinandersetzung ist. Die Frage, um die es geht, ist nicht neu. Sie hat mehr oder weniger alle einmal schon beschäftigt, die als junge Menschen hinter einem bunten Wimpel marschierten. Hat die deutsche Jugendbewegung Hitler und seine Kolonnen den Weg zur Macht geebnet — so wird es gar nicht selten, unter anderem auch in einem Kommentar von Harry Proß in seiner unter dem Titel „Die Zerstörung der deutschen Politik“ herausgegebenen sonst vorzüglichen Dokumentensammlung behauptet — oder war es nicht vielmehr der Geist der Jugendbewegung, der es so, vielen einsamen Kämpfern gegen den Nationalsozialismus ermöglichte, der Gewalt ins Angesicht zu widerstehen? Karl O. Paetel macht sich die Antwort, die er stellvertretend für viele sucht, nicht einfach. Er geht weit zurück. Er steigt noch einmal hinauf auf den hohen Meißner, wo sich am Vorabend des ersten Weltkrieges der Ur-Wandervogel verschwor. Er verfolgt die hier einsetzende Bewegung in der für sie so charakteristischen Fülle von Richtungen und Bünden, um zu verhindern, daß, wie es im Vorwort treffend heißt, „die Jugendbewegung als zeitgeschichtliches Phänomen endgültig in einem falschen Kartothekschrank der Katedersoziologie eingereiht wird“. Am Ende der Untersuchung stellt der Autor noch einmal die entscheidende Frage, um derentwillen dieses Buch geschrieben wurde, und versagt weder sich noch uns die Antwort:

„Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß es unter überzeugten Parteigenossen, HJ-Führern, Männern der Waffen-SS Tausende gab, deren Idealismus, persönliche Sauberkeit und Einsatzbereitschaft jeder Prüfung standhält. Und dennoch ist die Haltung, die die Geschwister Scholl unter das Fallbeil führte, die 1942 Harro Schulze-Boysen und seine Frau erhobenen Hauptes in den Tod gehen ließ, die den Grafen Claus von Stauffenberg und Helmuth James Graf von Moltke, viele junge Sozialisten und Konservative, Laien und Priester (direkt oder indirekt mit den Ereignissen des 20. Juli 1944 verbunden) dazu bewegte, inmitten der Gefährdung durch den Krieg die Führung ihres Staates zu beseitigen, eine andere — letzten Endes die der Jugendbewegung. Nationalsozialist wurde man, wenn man es ernst meinte, indem man sich mit allem, was man war, der „Idee“ auslieferte, indem man nicht nur die technisch letzte Verantwortung für alles, was geschah, dem W i r überließ, sondern freiwillig und ein für allemal auf das Recht des Einzelgewissens zum „Nein“ Verzicht leistete. Man gab für die Sicherheit einer militanten Ideologie das preis, was von der Meißner-Formel der Freideutschen bis zum Aufschrei der Münchner Studentenrebellen zum kostbarsten Gut der verschworenen autonomen Jugendgemeinschaften gehört hatte: das Recht und die Pflicht, als Einzelwesen — nur Gott und dem eigenen d a t-m o n i o n gegenüber verpflichtet — Entscheidungen in Freiheit (und ohne Intervention vorgesetzter Dienststellen) fällen zu dürfen, ja fällen zu müssen! Die zum Widerstand gingen, bestanden auf diesem Recht...“ (151 f.)

Eigentlich unnütz noch zu bemerken, daß sich der Autor selbst diese „Haltung“, welche die Jugendbewegung den von ihr geprägten oder auch nur berührten Menschen abforderte, als Mensch und Schriftsteller in eine solchem Geist oft verständnislos gegenüberstehende Gegenwart gerettet hat.

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