6654037-1959_19_03.jpg
Digital In Arbeit

Jugendreich ohne Jugendbewegung?

Werbung
Werbung
Werbung

„Jugendbewegung ist etwas Weltisches, etwas, was mit allem, was ist, zu tun hat.” Nikolaus Ehlen in „Neue Jugend” 7/8/1924

Hinter den politischen und geistigen Auseinandersetzungen in der Zwischenkriegszeit waren in einem beachtenswerten Umfang junge Kräfte gestanden. Gleiches vermag man für die Zeit nach 1945 weder in der Bundesrepublik noch in Oesterreich festzustellen. Sicher ist auch heute Jugend in der Gesellschaft da, mit ihrem Sarkasmus gegenüber dem Werk der Alten und mit ihrem Enthusiasmus. Aber alle Aktivität der Jungen verströmt im privaten Bereich. In der offiziellen „Gesellschaft” ist Jugend kaum mehr sichtbar, zumindest wird sie nicht durch Jugend repräsentiert, sondern durch „Berufsjugendliche”, wie in der Parteipolitik, in der noch rüstige Vierziger glauben, für die Jugend sprechen zu dürfen.

Was aber nur am Rande sichtbar ist, trotz der Vielfalt von Jugendorganisationen und von Gruppen, die das Wort „jung” zuweilen als Entschuldigung, wenn nicht als Drohung führen, ist das, was man einst „Jugendbewegung” in einem besonderen Sinne genannt hat. Bei uns war die Jugendbewegung durch den (katholischen) Bund „N e u 1 a n d” und die verschiedensten Gruppen der „W a n d e r v ö g e 1”, in der Bundesrepublik auch noch u. a. durch „Q u i c k b o r n” und im deutschen Teil der Tschechoslowakei durch „S t a f f e 1 s t e i n” repräsentiert.

Heute ist „Jugendbewegung” für uns ein Fachausdruck aus der Jugend- und Organisationskunde, ein historisches Phänomen. Aber kaum eine gegenwärtige Wirklichkeit.

Was war um diese Jugendbewegung, die nach 1945 in Oesterreich wohl als Traditionsverband wiedererstand, unter der Jugend aber, auch unter den Studierenden, kaum nennenswerten Einfluß auszuüben vermochte?

Vor allem war die Jugendbewegung, etwa der von Karl Fischer 1896 errichtete Wandervogel, eine aus „innerer Wahrhaftigkeit” geborene Reaktion junger Menschen gegenüber dem in Formeln und traditionsbefangenen Gesten verklammerten Philistertum deutscher Zunge, wie es um die Jahrhundertwende als wohlgesittete „bürgerliche Welt” bestand. Die gute Gesellschaft, oder das, was sich eitel dafür hielt, versuchte in den letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg, hilflos zwischen den technisierten Lebensformen der ersten industriellen Revolution und dem wortreichen „Humanismus” einer doppelten Moral schwankend, das Gleichgewicht zu halten. Die „Alten” waren bemüht, aus den Bestimmungsgründen dieser doppelten Moral ein Leben zu führen, das offenkundig in keiner Weise mit den lautstark betonten Idealen abgestimmt war.

In ihrem Widerspruch zu allem, was sie als „alt” empfand, war die Jugendbewegung auch im Widerspruch zu allem Gestrigen, eine avantgardistische Flucht nach vorne, von jungen Menschen, die nicht gewillt waren, die ihnen vorgegebene soziale Rolle in der Gesellschaft zu spielen. Aus diesem „Nein” zur gegebenen Gesellschaft war das berühmte Manifest der Jugendbewegung auf dem Hohen Meißner 1913 proklamiert worden. Schließlich aber war, was sich Jugendbewegung nannte, auch das organisierte Bemühen, die Natur zu entdecken, der geistigen Verstädterung und vor allem den beginnenden technischen Freizeitkulturen eine eigene, in ihrer Art bewußt stadtferne, antizivilisatorische völkisch-dörfliche Kultur, wenn nicht einen Kult entgegenzusetzen, Die Formen dieses Kultes, der sich schließlich in einem besonderen Kleidungs- und Lebensstil verfestigte, waren, trotz ihrem jugendlichen „Progressismus”, weithin vorindustriellen ‘ Lebensformen entnommen worden, wenn nicht gar, wie manchmal im Lied, exotischen Kulturkreisen.

Um gegen die schon in der Vorkriegszeit im Bürgertum sichtbaren Konsumexzesse zu demonstrieren, fühlte sich die Jugendbewegung in ihrer heroischen Epoche verpflichtet, eine konsumasketische Haltung in Gemeinschaft und im individuellen Verhalten zu zeigen, insbesondere im Bereich des Alkohol- und Nikotingenusses. Dies geschah, ohne daß aus dem Anderssein, als es die Masse war, aus dem Verzicht auf „Luxu- rierung” (Asperger) eine aufdringliche Abstinenz gemacht wurde, wenn es auch das am Rande gab. Jedenfalls wollte man von der Zeitparole „Genuß” frei sein bis zur extremen Forderung, alles abzubauen, „was wir nicht unbedingt haben müssen” (H. Sündermann).

Dadurch entwuchs der Jugendbewegung eine konsumasketische Elite, freilich nur insoweit, als Asket lediglich sein kann, wem ökonomisch die Chance des Genusses geboten ist. Die Angehörigen der Jugendbewegung entstammten daher in der Mehrheit den mittleren, wenn nicht den gehobenen sozialen Schichten, selten dem Vorkriegsproletariat. Die Enthaltsamkeit war daher mehrheitlich die Sache spontaner Entscheidung und nicht der Reflex von Not.

Mit dem Einbruch des Politischen in die Jugendbewegung wurde diese freilich gespalten. Bis weit hinein in die einzelnen Gruppen. Die Form wurde dann oft für den Inhalt gesetzt, das Lied wurde nicht selten Marsch-Lied und das Wandern zum Er-Wandern und zum Marschieren, das Lager und die Fahrten waren nun Sache vormilitärischer Erziehung.

Jedenfalls hatten Teile der NSDAP, das sollte nicht übersehen werden, etwas vom Bündischen der Jugendbewegung an sich, in Stil und in der Pose. Kein Wunder, daß beachtliche Teile der Angehörigen der Jugendbewegung sich, obwohl sie stets in Distanz zur Politik gestanden hatten, nunmehr im Stil und in der Prophetie des Nationalsozialismus so etwas wie die Kunde von der Heraufkunft jenes „Reiches” sahen, das sie ersehnt, wenn nicht erbetet hatten.

Vieles von dem, was in der erregten Befangenheit der ersten Jahre von seiten der Jugendbewegten gefordert wurde, ist inzwischen erfüllt worden, wie etwa: Die Ablöse des Patriarchalismus in der Pädagogik durch ein System gestufter Kameradschaft: die Naturverbundenheit wurde, wenn auch in vergröberten Formen, ein Teil der Verhaltensweisen der Massen und blieb es bis zum Beginn des wirtschaftswunderlichen Lebensstils.

Was die katholische Jugendbewegung gefordert, die Erkenntnis der Bedeutung der liturgischen Formen und ihre Mitgestaltung durch das Ganze der Gemeinde, ist zum allgemeinen Verhalten der Aktiven unter den deutschen Katholiken geworden.

Sicher ist vieles von dem, was uns als Stil der Jugendbewegung in Erinnerung ist, überholt, zeitfremd, wenn nicht auch schon wieder philiströs. Manches in Form und Geste ist. wenn heute noch betätigt, liebenswürdiger Anachronismus wie der sechzieiährige ..Wandervogel”, der zuweilen bei einem ..Thing” sich jugendlich aufmacht und eine Kleidung zur Schau trägt, die schon Kostüm ist und ihm gut anstand, als er noch die Hälfte an Jahren und Gewicht hatte. Jedenfalls wurde und wird, das sei nicht übersehen, vielfach in der Jugendbewegung Form und Inhalt verwechselt, und zudem da und dort eine Lebensform, die der Jugend angemessen ist, in das „hohe Alter” übernommen und dadurch zur Groteske.

Aber trotzdem sollte die Jugendbewegung nicht Geschichte sein, auch wenn es weithin schon so ist.

Ist die Jugendbewegung nun tatsächlich schon dissertationsfähig? Oder besteht sie nur in anderen Formen weiter, in Formen, die dem Geist und dem Verhaltensstil dieser Zeit zu entsprechen scheinen?

In der Zeit nach 1945 ließ map, angstvoll bestimmt von der Erinnerung an die Zeit um 1933 und 1938, die Jugend vielfach nicht allein und betreute sie zuweilen in einem bedenklichen Umfang, man katalogisierte und organisierte sie demgemäß nach „Naturständen”, nach Parteien, später auch nach der Zugehörigkeit zu den sozialen Großgruppen. Das war sicher gut so, anfänglich wahrscheinlich unvermeidbar, aber allein zuwenig. So brach die Jugend allmählich aus den Markierungen. Vieler Gründe wegen. Nicht nur, weil ihr „fad” war oder deswegen, weil sie die gewachsenen Wohlfahrtschancen seelisch-geistig nicht zu bewältigen verstand („Luxusverwahrlosung”). Es waren auch schon wieder politische Gründe dabei, etwa der politische Vaterhaß. Daher die vielen faktisch oder formell politisch oppositionellen Jugendgruppen.

Aber noch etwas läßt vermuten, daß so etwas wie eine Jugendbewegung neuen Stils aufbrechen kann, eine Bewegung von jungen Menschen, die unterschiedlich in ihrer weltanschaulichen Grundhaltung, nicht gewillt sind, sich unter angehaltenem Atem das quasiamtliche Organisationskorsett anlegen zu lassen.

Es war ein Irrtum, anzunehmen, die gewachsenen Genußchancen würden die Jugend derart narkotisieren, daß sie es nicht mehr vermöchte, gegen das zu protestieren, wogegen sie sich um die Jahrhundertwende mit einer Leidenschaft und Unbekümmertheit gewendet hat, wie nur Jugend es vermag. Vor allem gegen die doppelte Moral der Alten und einen sich patriarchalisch gebärdenden Staat.

Heute sagt man, um sich auch jenseits der Grenzen verständlich zu machen, wenn man einen Widerspruch gegen die allgemeine Norm abwerten will, es handle sich um „N o n k o n- formismus”. Ein solcher lautloser Nonkonformismus einzelner Gruppen der Jungen ist im Entstehen, die Bildung eines- „dritten” Milieus neben Elternhaus und Schule, das aber nicht allein neben diesen, sie ergänzend, besteht, sondern in einem bewußten Widerstand zu ihnen.

Sicher: Für viele, die sich „jugendbewegt” nennen, ist die Jugendbewegung kaum mehr als eine große und schöne Erinnerung. Wie es der „Graben” für den ganz alten Soldaten ist und der Kasernenhofton für den „Kämpfer” aus den Verwaltungsstellen der Etappe.

Die den Jahren nach alten „Jugendbewegten”, die das Gesetz ihres Verhaltens nicht mehr an eine völlig gewandelte Umwelt anpassen wollen, sind nicht gemeint, wenn von „Jugendbewegung heute” die Rede ist. Es geht nicht so sehr um die, welche gestern „jugendbewegt” waren. Sind doch allein an die 75 Prozent der jungen Neuländer gefallen!

Worum es geht, das sind die vielen jungen Menschen, die heute noch da sind und die von ihrer Natur her anders sein wollen als die Masse und die — ungefähr — dem Typ des Wandervogels entsprechen, der nun ein, wenn auch selten gewordener Grundtyp jugendlichen Verhaltens ist.

Nun sind sie also noch da — oder schon wieder da (?) — die Wandervögel in ihren verschiedenen Abarten, wenn sie auch nur mehr vom Rand her in die Gesellschaft und in die Welt hineinwirken. Aber sie tun dies mit mehr Heroismus als ihre Vorbilder in einer Zeit, in der ein Protest fällig und vielen willkommen, wenn nicht in Mode war.

Die Erzieher vor allem, aber auch die Politiker, sollten heute jenen wenigen jungen Menschen mehr Aufmerksamkeit widmen, die sich nochmals in einer Zeit wie dieser einer Wahrhaftigkeit in Freiheit verschrieben haben, die sich, wie sie sagen, selbst bilden wollen für das „Echte, Einfache und Wertvolle”, in einer Vitalität in Gebundenheit. Wie viele junge Menschen sind heute noch rücksichtslos bemüht, für sich und a n sich die Wahrheit zu erfahren und das Pathos wie das Musische zum Rang eines echten Stils zu erheben? Wo ist auch noch die „Vereinsbegeisterung”, das Bekenntnis zu einer Gemeinschaft, das da sagen läßt: „Unser Talent ist Bund” („Der Quell” 4/5/1957)?

Wenn aber von „Jugendbewegung heute” die Rede ist, sollte auch nicht das andere übersehen werden, das an informellen Gruppen da ist, an „Geheimbünden”, an Segelfliegern, an Gemeinschaften, die sich um „Parties” herum gebildet haben: auch die „Halbstarken” sind, freilich in einem besonderen Sinn, „Jugendbewegung”, sie haben nun einmal ihren Stil und ihre polizeibekannte „hündische” Kleidung, auch einen Ehrenkodex, der oft mehr vom Willen zur Wahrhaftigkeit bestimmt ist, als die Erzieher es vermeinen.

Auch im Bereich der Politik ist ein Aufbruch der Jungen unverkennbar, den man, weil zu sehr auf Sicherung der Positionen bedacht, in einer erstaunlichen Sorglosigkeit übersehen will.

Man sollte aber nicht übersehen: Die Mehrheit der Jugend ist der Gesellschaft der Erwachsenen heute wieder so fern, wie sie es zu jener Zeit war, in der sie (eine andere Jugend) mit einem unübersehbaren Nachdruck auf ihr Eigenleben verwies und andeutete, was sie — wahlberechtigt geworden — später und grausam zu vollziehen gedachte.

Wir erleben in dieser Zeit wieder die große Absenz der Jugend in der Gesellschaft, insbesondere also in der Politik. Während anderswo, da, wo Freizeitwelt ist, die Jugend durchaus mit dabei ist. Es kann also sein, daß neuerlich eine „zweite” Gesellschaft der Jungen entsteht, welche die Erwachsenen von heute nicht, wie diese glauben, ablöst, sondern liquidiert. Wie schon einmal. In Oesterreich. Darauf sei verwiesen!

Dürfen wir es aber zulassen, daß aus Verschulden der Alten eine Generation in Staatsverdrossenheit und Gesellschaftsfremdheit heranwächst? Und zur Staatsgefahr wird?

Daher sollte unsere kritische Sorge mehr denn je der Jugend jenseits des Pflichtschulalters gelten, aber auch dem Leben und dem besonderen Wachsen der Eliten, neben der großen Menge, die heute allein betreut wird, weil ihre Divisionen in Mandaten ausgemünzt werden können.

Und eine der Möglichkeiten, Eliten in ihrem Aufwuchs zu sichern, war die hündische Bewegung. Das sei nicht vergessen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung