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Vom Führer zum Partner

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Unmöglich kann sich das Verhältnis des jungen Menschen unserer Zeit zu seinem Jugendführer so vollziehen, wie es Stefan George auf dem Höhepunkt der Jugendbewegung forderte: „Führer sei dir der, der viel und hart verlangt, der mit klaren und ruhigen Augen und doch in seinem Inneren die wahre Glut ohne gekünstelte Gebärde besitzt, der dich erzittern läßt durch sein quellend Leben, der dich .befreit von der Angst vor dem Trüben, dich durch seine Liebe zum Menschen erhebt, dessen Sprache und Haltung etwas Freies, Offenes, Adliges hat.“

Diese Form des Führerbildes hat sich in den folgenden Jahrzehnten selbst ad absurdum geführt durch den beispiellosen Mißbrauch an der Jugendbewegung durch „den Führer". Sie selbst war freilich nicht ganz unschuldig daran, da-sie zum großen Teil einem inhaltslosen Formalismus huldigte, den die nachfolgende Bewegung mit ihren Idealen füllen konnte; da sie ferner der Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen ihrer Zeit aus dem Weg ging und sich nicht dem industriellen und technischen Aufbruch stellte, sondern einseitig naturverbunden und rückwärtsgewandt sich mit dem Mittelalter befaßte — eine Form der Absage übrigens, die uns heute in abgeändeter Form in den Gammlern begegnet.

Kräfte der Umwelt bewußt machen

Damit haben wir schon den Ansatzpunkt für unsere Themenstellung: Wer heute mit Jugendlichen als Führer oder Helfer zu tun hat, muß vor allem um die Probleme der jungen Menschen wissen, die sich aus unserer Umwelt und Gesellschaft ergeben, insofern diese nämlich keine bloße „Außenwelt“ geblieben, sondern zu einer „Innenwelt" für den einzelnen persönlich geworden sind. Sie dringen in die Vitalsphäre des Kindes und Jugendlichen ein und verändern ihn in einer Weise wie vielleicht nie zuvor. Diese Wirkkräfte sind dem Jugendlichen bewußt zu machen, damit er allmählich fähig wird, sie in der rechten Weise zu integrieren und seine Umwelt zu gestalten. Damit sind die zwei Hauptpoblemkreise genannt, mit denen sich heute Jugendführer und -bildner auseinanderzusetzen haben.

Die Situation des jungen Menschen heute unterscheidet sich wesentlich von der früheren Generation. Bis vor wenigen Jahrzehnten lebte auch bei uns die Masse der Menschen noch auf dem Lande, in einer relativ statischen Gesellschaft mit Ihren festen Ordnungen, Sitten und Bräuchen. Diese Gesellschaft baute sich nach Ständen gegliedert auf aus Adel, Bürger und Bauern, zu denen dann der 4. Stand, die Arbeiterschaft, hinzutrat. Die alten Lebensordnungen waren in jahrhundertelanger Tradition gewachsen und verbürgten damit ihre Qualität.

Infolge des industriellen Wandels, der durch die Entdeckung der Elektrizität, durch Ausbeutung der

Bodenschätze und ihre bessere Verarbeitung ermöglicht wurde, hat sich diese gesellschaftliche Situation rasch gewandelt. Nicht nur entwik- kelten sich überall die Groß- und Weltstädte und ganze Industrielandschaften, sondern der innere Umbau der Gesellschaft selbst ging immer rapider vor sich, begünstigt vor allem durch den Erdrutsch des ersten und mehr noch des zweiten Weltkrieges. Soziologen haben dieser Gesellschaft verschiedene Namen gegeben: die industrielle, egalitäre, nivellierte, dynamische Gesellschaft — Begriffe, die alle etwas Richtiges über sie aussagen.

Wichtig ist hier nun, daß der junge Mensch der alten Gesellschaft in der Familie jene Verhaltensweisen lernte, die er sein ganzes Leben gewissermaßen beibehalten, weiterentwickeln und anwenden konnte, weil diese natürlich gewachsene Gesellschaft sich im Grunde nach dem Modell der Familie aufbaute, was unsere Sprache festgehalten hat, wenn sie von „Stadtvätem“, „Landesvätern“ und dem „Vaterland“ spricht.

lieh ist er unter Umständen der fertige Mensch. Wir verstehen aus diesem Grunde, daß Jugendpsychologen und Soziologen feststellen, daß das Hauptproblem für den jungen Menschen gegenwärtig nicht so sehr sexuelle Schwierigkeiten sind, son dern seine menschliche Selbstfindung inmitten der Rollenangebote und Rollendiffusion. Gerade hier erwartet er von seiten der Erwachsenen Verständnis und Hilfe.

Zur Selbstführung erziehen

Es ist einleuchtend, daß in dieser völlig gewandelten Situation auch die Probleme der Jugendführung ganz andere geworden sind. Leider ist die Jugendarbeit weithin noch ein Niemandsland, das erst allmählich von der Wissenschaft entdeckt wird. Eine Theorie der Jugendführung gibt es bis heute nicht. Doch soviel dürfte klargeworden sein, daß die Gestalt des charismatischen Führers im Sinn von George oben höchstens noch für Gruppen der Acht- bis Zwölfjährigen am Platz ist, aber kaum mehr für Jugendliche. In den angelsächsischen Ländern ist der hauptamtliche Jugendführer schon ziu einer Selbstverständlichkeit geworden, während man bei uns Angst davor hat, diesen „Job“ zu erlernen. Im allgemeinen gibt es bei uns den Führer nur als Übergangserscheinung, etwa für die Zeit des Studiums, weil man sich fürchtet vor der Karikatur des „Berufsjugendlichen“.

Andererseits stimmt es, daß Jugendliche selbst skeptisch geworden sind gegenüber jeder Fremdführung, vor allem auf jede Art Gängelung allergisch reagieren. Um so scharfsichtiger haben sie die Chancen der Selbstführung erkannt. „Diese Erkenntnis darf in mancher Hinsicht als bahnbrechend gelten ... Der Jugendführer: das ist heute nicht mehr so sehr — wie früher — das Führungsgenie, das alle in seinen Bann reißt..., sondern vielmehr der aufgeschlossene Menschenkenner, der es als seine höchste Aufgabe ansieht, Regisseur der Selbstführung der Gruppe zu sein und nicht der Mann der einsamen Beschlüsse, an dem alle Verantwortung hängt und dessen Willensregungen von den Gefährten wie dunkle Orakel blind bejaht werden“ (F. Pöggeler).

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