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Die Schuld an den ungarischen Deportierten

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Vier Monate nach Beginn der Deportationen in Ungarn haben die Westmächte ihre Stimme erhoben. Die Weltöffentlichkeit hat von den unmenschlichen Zuständen Kenntnis erhalten und sie einstimmig verdammt.

Seit Mai wurden mehrere Zehntausende gezwungen, die ungarische Hauptstadt in kürzester Zeit zu verlassen und dabei nur das Notwendigste mitzunehmen. Die Methoden erinnern an das Vorgehen des Hitlerregimes den Juden gegenüber. Familien werden getrennt, weder Greis noch Kinder verschont. In überwachten Güterzügen geht es dem neuen Bestimmungsort entgegen, der — je nach dem Glück des einzelnen — entweder ein Dörfchen in einem entlegenen Teil des Landes oder aber eines der großen Sonderlager in Ostungarn sein kann.

Die kommunistische Regierung hat erklärt, daß von diesen Maßnahmen Mitglieder der „früher regierenden Klassen“ betroffen wurden. Wir lesen Namen von Universitätsp'rofessoren, von hohen Offizieren, die vor einem Vierteljahrhundert in Pension gegangen sind, von Ärzten und Advokaten, die Namen der großen Familien des Mittelstandes und des magyarischen Adels. Sie alle waren schon seit der „Befreiung“ ihres Vaterlandes zur beliebten Zielscheibe der Trabanten Moskaus erkoren und Schritt für Schritt ihres Lebensunterhaltes beraubt worden. Es ist kein Geheimnis, auch im Westen nicht, daß diese Leute ihr Dasein in größtem materiellem und seelischem Elend fristen. Den Männern war nur die ärmlichste körperliche Arbeit, den Kindern nur die Elementarschule bewilligt. Trotzdem hielt es jetzt die Budapester Regierung für notwendig, gegen diese am Rande der Vernichtung Stehenden noch besondere Maßnahmen zu ergreifen, deren Härte ein sprechendes Zeichen ist. Diese Deportationen bezeugen, daß das kommunistische Regime in Budapest — und Gleiches wird wohl für die anderen Volksdemokratien gelten — ihre gefährlichsten Gegner in Menschen erblickt, die heute den historischen Titel der „ci-devants“ tragen.

Es lohnt sich, bei dieser Feststellung

wesen sein, insbesondere dafür, daß ihre Lander die Befreier aus dem Osten nicht mit Freudenjubel und Blumenregen empfangen haben. Später, als die ersten — und aus Versehen ungefälschten — Wahlergebnisse Ungarns das Fiasko der Kommunisten bewiesen, aber diese Bekenntnisse zum Westen ohne Widerhall blieben und Ungarn in raschem Tempo kom-munisiert wurde, änderte sich die Legende. Nun wurde es diesen „Reaktionären“ zu Lasten geschrieben, daß ihr Land der Sowjetunion zum Opfer gefallen ist und nicht durch ein Wunder seine Freiheit behalten konnte. Gewiß, ein solcher „Aberglaube“ ist bequemer als die klare Erkenntnis, daß der Fall von Bastionen wie Ungarn und anderer Länder der eigenen Schuld und der eigenen politischen Kurzsichtigkeit des Westens zuzuschreiben ist.

So erleben wir, daß in den vergangenen Jahren Vertreter aller Parteien, die eine Zusammenarbeit mit dem Kommunismus angestrebt und versucht haben, im Westen freudige Aufnahme fanden, aber die Repräsentanten bürgerlicher Ideale verrufen und verlassen im Hintergrund stehen durften. Es ist geradezu zum Kredo westlicher Außen-

ämter geworden, daß alles, was vor dem Krieg schlecht und übel gewesen ist, die Schuld dieser Kreise sei, und daß man einzig und allein jenen trauen dürfe, die nach dem zweiten Weltkrieg auf die politische Bühne ihres Vaterlandes getreten sind. So stark ist diese Ansicht verankert, daß niemand den Mut hat, einen Blick auf das Ergebnis zu werfen, das diese neue Garnitur verbuchen kann!

Die unglückliche Haltung des Westens ist nur verständlich aus seiner Unkenntnis der soziologischen Struktur jener Länder der „Ostzone“, die heute Satellitenstaaten Moskaus sind. So konnte es geschehen, daß der Westen die schmale staatstragende Oberschicht preisgab, die allein zunächst fähig gewesen wäre einer Evolution im Sinne europäischer Demokratie. Das Vakuum, der Leerraum in der Gesellschaft, der durch den Sturz und nun die Vernichtung dieser Oberschicht geschaffen wurde, wird jetzt ausgefüllt durch die neue Herrenschicht der kommunistischen Funktionäre.

Nun erweisen eben die Kommunisten — die es am besten wissen sollten — den übriggebliebenen Mitgliedern jener ehemaligen „herrschenden“ Klassen eine letzte und blutige Ehrungl Die Volksdemokratie beweist es und schreit es dem Westen ins Gesicht — wenn er es nur verstünde! —, daß diese Menschen, die nicht einmal Politiker gewesen sind, blo8 ihrer Erziehung in christlichen und bürgerlichen Idealen zufolge dem Kommunismus in ihrer eigenen Person, in ihrem bloßen Dasein, eine ständige Niederlage bereiten und die größte Gefahr für sein Regime bedeuten.

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