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GESCHICHTE VON AUGENBLICKEN

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Sie existiert seit genau 90 Jahren. Damals — also 1877 ~ nannte Frederik B. Perkins als erster die gesammelten Werke A. E. Poes „stories“. Eine neue Literaturgattung hatte ihren Namen gefunden; die amerikanische „Short story“ war geboren.

Mit der deutschen Kurzgeschichte ist sie nicht einfachhin gleichzusetzen. Diese Bezeichnung, als Lehnübersetzung, wurde in Deutschland erst in den frühen zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts eingeführt.

Doch schon im 19. Jahrhundert begannen sich in Deutschland, Rußland, Frankreich und Amerika zahlreiche Autoren in der kleinen Form zu versuchen. In Deutschland war es E. T. A. Hoffmann, in Rußland Nikolai Gogol und Alexander Puschkin, die neue Themen fanden und eine neue Technik des Schreibens entwickelten. Und in Frankreich erregten die Geschichten Merimees, Honore de Balzacs, Theophil Gautiers und Maupassants einiges Aufsehen. Sie alle sind charakterisiert durch eine direkte, impulsive und anschauliche Art der Erzählung, die auf den Leser vor allem durch ihre Unmittelbarkeit wirkt, durch eine gewisse sinnliche Ausstrahlung, einen gewissen Effekt. Eigenschaften, die als Elemente der „short story“ genannt werden. Und doch hat es die kurze Erzählung als Begriff für eine eigene Literaturgattung noch nicht gegeben.

Daß sie gerade in Amerika das Licht der Welt erblickte, ist kein reiner Zufall: Amerika war ein junges Land. Ohne Vergangenheit und ohne Tradition. Die ersten Siedler mußten sich ihre Lebensbedingungen erst schaffen. Das, was sie an Vorstellungen, an Gewohnheiten aus ihrer Heimat mitgebracht hatten, paßte nicht in diese Welt. Die neue Lebensart verlangte nach einer neuen Ausdrucksweise. Die kleine Form der Erzählung war der erste, tastende Versuch, dieser neuen Wirklichkeit mit künstlerischen Mitteln gerecht zu werden. Und schließlich setzte sie sich so sehr durch, daß sie heute als eigene amerikanische Literaturgattung betrachtet wird.

Noch ein wirtschaftlicher Umstand wird für das Entstehen der „short story“ angeführt: Bis zum Jahre 1891 konnten die amerikanischen Verleger das Werk eines jeden ausländischen Autors nachdrucken, ohne ein Honorar zahlen zu müssen. Und da Englisch zur Landessprache erklärt worden war, wurde der amerikanische Büchermarkt von englischen Werken geradezu überschwemmt. Fast drei Viertel sämtlicher in Amerika erschienenen Bücher war bis zu diesem Zeitpunkt in England geschrieben worden. Dann trat Amerika dem Abkommen über das zwischenstaatliche Urheberrecht bei — die Folge davon war die Honorierungspflicht ausländischen Autoren gegenüber, und die Vorherrschaft der englischen Literatur in Amerika hatte ein Ende gefunden.

Was aber bedeutete die Situation, wie sie sich vor 1891 stellte, für die amerikanischen Autoren? Sie wurden einfach nicht gedruckt! Denn ein einheimischer Schriftsteller verlangte Geld — und warum sollte man das bezahlen, wenn man es von England her billiger haben konnte. Viele dieser Autoren sahen sich daher gezwungen, entweder — soferne sie die Mittel dazu besaßen — ihre Werke auf eigene Kosten drucken zu lassen oder aber — und dies war häufiger der Fall — für die damals sehr zahlreich erscheinenden Zeitschriften zu schreiben. Da ihnen jedoch in diesen Magazinen nur ein bestimmter Raum zur Verfügung stand, ergab sich von selbst eine kurze und prägnante Form der Erzählung.

Fast jeder bekannte Autor des ausgehenden 19. Jahrhunderts war aus finanziellen Gründen ständiger Mitarbeiter einer Zeitschrift. Der Journalismus begann seinen Einfluß auf die damalige Schriftstellergeneration auszuüben. Er lehrte sie, sich knapp und profiliert auszudrücken, und mit einer überraschenden Wendung im Handlungsablauf oder einer effektvollen Schilderung die Aufmerksamkeit des Lesers zu gewinnen. Viele der amerikanischen Autoren dieser Zeit haben ihre Laufbahn bei den Zeitungen und Zeitschriften begonnen, sei es als Setzer, Redakteur oder Mitarbeiter.

Es wäre noch ein Grund anzuführen, warum die „short story'“ gerade in Amerika entstanden ist: Die Parallelität von Literatur und „american way of life“. Tempo, Fragmentarisches und Skizzenhaftes werden als Elemente der amerikanischen Lebensart empfunden. Sie sind ebenso Elemente der kleinen Form geworden, mit der sich dieses Land seine spezielle Literatur geschaffen hat.

*

Eine sehr tiefe Wurzel der amerikanischen Literatur, und damit der amerikanischen „short story“, reicht selbstverständlich in die europäische Dichtung. Sie bildet die Grundsubstanz, aus welcher langsam und allmählich, abgewandelt und den neuen Erfordernissen angepaßt eine eigenständige Form der künstlerischen Aussage wuchs. So findet die deutsche Romantik mit ihrer Vorliebe für Märchen und Sagen in den Erzählungen der amerikanischen Autoren einen deutlichen Niederschlag. Daß man diese innere Beziehung zur deutschen Literatur keineswegs verheimlichte, sondern im Gegenteil geradezu als Zeichen für Güte und Qualität gebrauchte, zeigt die Tatsache, daß Poe seiner ersten Erzählung „Metzenger-stein“ später den Untertitel „A tale in imitation of the ger-man“ (Nachahmung des Deutschen) beifügte.

Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zur deutschen Erzählung ist jedoch durch die Kennzeichen der sogenannten „tall tales“ gegeben, in denen wilde Übertreibungen, krude

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