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Hitlers Nachfolger

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DIE 28 TAGE DER REGIERUNG DÖNITZ. Von Marlis G. Sieineri. Econ-Verlag, Düsseldorf-Wien, 1967, 426 Selten, S 186.—.

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DIE 28 TAGE DER REGIERUNG DÖNITZ. Von Marlis G. Sieineri. Econ-Verlag, Düsseldorf-Wien, 1967, 426 Selten, S 186.—.

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Es ist bezeichnend, daß in letzter Zeit zwei Untersuchungen über die Regierung Dönitz erschienen. Zuerst die Dissertation eines Kieler Historikers, die sich mehr mit den völkerrechtlichen Aspekten beschäftigt und nunmehr das umfangreiche Buch einer deutschen Politikwissenschaft-lerin, die mit Hilfe gründlichster Aktenstudien, Befragungen und Verwendung des immer reicher werdenden Archivmaterials eine zusammenfassende Wertung der 23 Tage währenden geschäftsführenden Reichsregierung des Großadmirals erfolgreich unternahm. Es gehört zu den Merkmalen des technischen Zeitalters, daß Regierungen unter Umständen durch Funktelegramme bestellt werden, und als Dönitz nach dem Selbstmord Hitlers die Würde des .Reichspräsidenten übertragen erhielt — wobei Hitler bewußt die seinenzeitige Ämterkumulierung mit dem Reichskanzleramt vermied — war er nichts als ein geschlagener Großadmiral, dessen Instrument, die deutsche Kriegsmarine, unter seinen Händen zerfiel, und ein Staatsoberhaupt, dessen Mitarbeiterstab sich durch die Zufälligkeiten im norddeutschen Ausweichraum zusammenfand. Der damals vierundfünf zigjährige Großadmiral galt als einer dier hitlertreuesten hohen Offiziere und hatte diesbezüglich seine Haltung gerade am 20. Juli 1944 unterstrichen. Warum letzten Endes die Entscheidung bezüglich der Nachfolge auf ihn fiel, glaubt die Verfasserin in Vorgesprächen in der Reichskanzlei zwischen Goebbels, Speer und Hitler ersehen zu können, wobei der Technokrat Speer, dessen Widerstand gegen die Zerstörungsparolen selbst seinen einst angebeteten obersten Kriegsherrn beeindruckte, ganz andere Motive verfolgte als Goebbels. Faktisch hat Dönitz zögernd aus einer Reihe von sich anbietenden Ministern und Militärs eine ad hoc-Regierung gebildet, in der vor allem der ehemalige Finanzminister Schwerin-Krosigk als Außenminister und Leiter der Regierung das konservative Element repräsentierte, Speer die radikale Linie zur technischen Zusammenarbeit mit den Alliierten vertrat und die Gruppe der Militärs, an der Spitze Generaloberst Jodl, in einer ambivalenten politischen Rolle noch glaubte, im Sinne Seeckts zwischen Ost und West große Militärpolitik betreiben zu können. Die Porträts der wichtigsten Mitarbeiter von Dönitz und die Entstehung der Regierung und ihres Apparates gehören zu den besten Teilen dieses ausgezeichneten Buches, um so mehr als die Forschung bisher immer auf die unentbehrlichen Aufzeichnungen von Dönitz' Adjutanten und ein schon vor Jahren herausgegebenes fragmentarisches Kriegstagebuch der letzten Phase des OKW angewiesen war. Die politische und militärische Lage der Regierung Dönitz, die vor allem in den besetzten Ländern Holland, Dänemark und Norwegen noch sogenannte Faustpfänder zu eribiik-ken versuchte, war zunächst innenpolitisch durch die rasche Beseitigung des Parteieinflusses im engsten Kreis um den Großadmiral einigermaßen entlastet, wenn auch manche Denkschriften wie die von Hellmut Stellrecht und anderen davon zeugen, daß ein Kampf der Geister um die politische Ausformung der Regierung bis zum letzten Moment ihrer Existenz andauerte. Angesichts der militärischen Lage entschloß sich Dönitz unter dem Einfluß Jodls zuim Gedanken einer stufenweisen Kapitulation, die historisch gesehen, wie die Verfasserin zugibt, tatsächlich die einzig richtig erscheinende Maßnahme war. Hier hat er der Tatsache Rechnung getragen, gegen immer wiederum energisch vorgetragene Meinungen der Generalität, vor allem des wdrklichkeitsblinden Jodl, die Agonie — denn von einem Zusammenbruch des Dritten Reiches kann man kaum sprechen —, zu beenden, um so mehr als sich ja an den Außenfronten Entwicklungen abzeichneten, die alle Illusionen über einen letzten Verteidigungskampf in Norwegen oder im Alpenraum, ja selbst nicht in der engsten Umgebung der „nordischen Enklave“, der neuen Regierung als vollkommen aussichtslos erscheinen ließen. So hatte der Gauleiter von Hamburg, Kaufmann, energisch und erfolgreich die letzten Kapitulationsverhandlungen durch eigene Entscheidungen, die die Stadt retteten, überspielt, und für den Südostraum verdient ein Fernschreiben des Generalobersten Lohr vom 5. Mai 1945 hervorgehoben zu werden:

„ ,Erhaltung des Großdeutschen Reiches nicht mehr möglich. Errichtung eines österreichischen Staates durch die Feinde unabwendbar. Es liegt im gesamtdeutschen Interesse, diesen Staat möglichst lebensfähig und rasch auf europäisch sittlichen Grundlagen aufzubauen ...' Der Generaloberst berichtete, daß beträchtliche Teile Österreichs wenig zerstört und noch unbesetzt seien, Daß seine Heeresgruppe schützend vor der Südostgrenze des Landes stehe und fest in seiner Hand sei. Lohr wollte seine Heimat vor der Bolschewisie-rung schützen, wie er schrieb, und daher seine Dienste Feldmarschall Alexander für die Aufstellung von Ordnungstruppen zur Verfügung stellen. (Die Verfasserin.)“

Die Kapitulation von Reims und die nachfolgende Ratifikation in Berlin anerkannte bis zu einem gewissen Grad die Regierung Dönitz. Es ist interessant, daß danach, vor allem unter dem Einfluß von Jodl, der sich nun, da Keitel als erster General von den Alliierten verhaftet wurde, noch der Hoffnung hingab, eine Option zwischen West und Ost vornehmen zu können, nicht zuletzt unter dem Einfluß junger Offiziere, die glaubten, unter dem Eindruck des zunächst zurückhaltenden, die deutsche Einheit betonenden Vorgehens der russischen Verbindungsoffiziere, ein neues „Tauroggen“ vollziehen zu können (S. 296). Alle diese kurzfristigen Überlegungen und der Versuch einer Stabilisierung der Regierung Dönitz zwischen den Alliierten wurde durch die Verhaftung der „geschäftsfiüihrenden Reichsregierung“ erledigt, wobei vor allem die Erklärung der Alliierten bezüglich der Übernahme der obersten Regierungsgewalt in Deutschland vom 5. Juni 1945 einem drohenden Zwist zwischen den Partnern der Kriegskoalition ein Ende setzte. Der Versuch des Großadmirals, zwischen den Fronten die Existenz des Deutschen Reiches, wenn auch in einer Enklave, untermauern zu können, hat bekanntlich in der Rechtswissenschaft zu vielen Diskussionen geführt, wobei die Debellationstheorie von Kelsen und die Fortbestandstheorie, die naturgemäß sehr eng mit dem Alleinvertretungsrecht der Bundesrepublik verbunden ist, eine große Rolle spielt.

Die Verfasserin hat in objektiver Würdigung aller Komponenten und Personen und der sehr komplizierten Vorgänge hinter den Kulissen verdienstvollst neue Gesichtspunkte erarbeitet und vor allem einen sehr wichtigen Beitrag zu der noch weitgehend ungeklärten Fülle der Vorgänge der letzten Wochen des zweiten Weltkrieges in und um Deutschland geliefert.

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