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Kritischer Juni

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Am 15. Juni treten die Großen Vier neuerlich zusammen und die Augen der ganzen Welt richten sich auf Bevin, Bidault, Mo-lotow und Byrnes. Ihrer Tagung sind bedeutungsvolle Reden als Auftakt vorangegangen: Molotow analysierte die erste erfolglos verlaufene Pariser Konferenz mit scharfer Kritik, Byrnes antwortete ohne Zurückhaltung, Bevin hielt ein außenpolitisches Expose dem Churchill seine Kritik in glänzenden Reden entgegenhielt und Truman wechselte mit dem neuen Sowjetbotschafter Nowikow verheißungsvolle Freundschaftsworte. Alle diese Erklärungen übersehen zwar nicht die dem allgemeinen Friedensschluß auflauernden Gefahren, sie lassen aber dennoch zahlreiche Möglichkeiten für Annäherung und Verständigung offen.

Wenn diese zweite Außenministerkonferenz Erfolg hat, dann steht einem raschen Abschluß der Verträge mit Finnland, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Italien, damit organisch verbunden einem Vertrag mit Österreich nichts im Wege und man könnte dann für Weihnachten 1946 den allgemeinen Frieden in Europa erwarten. Beim Scheitern der Konferenz käme für die schwergeprüften Völker eine neue Nervenprobe, in diesem Falle müßten die Großen Drei die Zügel ergreifen, um den Frieden zu retten, da der Gedanke, diese Aufgabe der UNO zu übertragen, nicht auf fruchtbaren Boden gefallen ist.

Noch ist aber kein Grund zu Kleinmut vorhanden. Als Feldmarschall Schwarzenberg Ende März 1814 mit den Verbündeten Paris eroberte, da glaubten die europäischen Völker nach 22 Kriegsjahren nun rasch den Frieden zu erhalten. Es währte indessen fast 20 Monate, bis nach dem ersten Pariser Frieden und nach den Schlußakten des Wiener Kongresses erst der zweite Pariser Friede den endgültigen Frieden brachte. Auch damals ging es — genau wie heute — um die Neugestaltung Deutschlands und den Wiederaufbau der europäischen Staatenordnung; auch damals führten die Großen Vier — England, Österreich, Preußen, Rußland — das Wort; auch damals scheiterte beinahe die Einigung an wenigen Fragen (Polen — Sachsen!). Es kam sogar zu sehr gefährlichen Spaltungen innerhalb der Siegermächte und es gab desgleichen weniger ein Verhandeln zwischen Siegern und Besiegten, als ein zähes Ringen innerhalb der Sieger um Machtfragen großen Maßstabes. Letzten Endes handelte es sich um das Erringen eines Gleichgewichtszustandes, der als bestes Mittel zur Erhaltung des Friedens betrachtet wurde. Mag der Gedanke vom Gleichgewicht der Kräfte überholt sein, im Wesen wird auch bis auf weiteres ein Gleichgewicht — welcher Art immer — für die Friedensarhal-tung notwendig sein. Der Vergleich mit dem Kampf um den Frieden vor mehr als hundert Jahren zeigt eindrucksvoll, daß nach sehr langen Kriegen, an denen viele Mächte beteiligt sind und nach gleichzeitigen tiefgreifenden inneren Umwälzungen der Weg zum Frieden Zeit braucht; ein aufgepeitschter Ozean glättet sich nur allmählich. Geduld ist in solchen Lagen wichtigste diplomatische Weisheit.

In diesem Sommer sind die Friedensfaktoren nicht ganz so dürftig als in vergangenen Zeiten. 1914 lagen zum Beispiel Krieg und Frieden in den Händen sehr vieler Staatsoberhäupter, Minister und Parlamente und man konnte eben in den Krieg „hineinschlittern“; auch 1939 war es trotz des Bestandes des Völkerbundes nicht viel anders; 1946 liegen aber Krieg und Frieden nur mehr in den Händen der Großen Drei und der UNO-Verträge. Und ein gegebenes Wor. muß heute unbedingt gehalten werden, denn zu groß sind die moralischen Bindungen und zu mächtig ist die persönliche Verantwortung für den dauernden Frieden, zu dem sich die Siegermächte nach großen Blutopfern feierlich, bedjigungs- und ausnahmslos bekannt haben. In aller Welt herrschen Hunger und Seuchen — wer könnte schon angesichts dieses Warnungssignals dem Frieden aus dem Wege gehen? Noch selten sprachen so gewaltige Motive zugunsten des Friedens. Hierin liegt eine gute Hoffnung.

Österreich spielt im Kräftemessen der Großen keine unbedeutende Rolle. Nicht nur, daß Österreich sich auf seine in der Moskauer Deklaration verbriefte Unabhängigkeit berufen darf, hat es durch seinen mutigen und selbstlosen Kampf gegen Hitler — einen Kampf, der alsbald nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland im Jahre 1933 begann —, später durch seinen inneren opferreichen Widerstand während der Okkupation Anspruch auf seine Befreiung erworben. Seit Jahr und Tag ist es ein Ordnungsfaktor innerhalb einer unruhigen Umwelt. Gut, man kann über diese Rechtstitel hinweggehen; aber über eines kann man bei Todesgefahr nicht hinweg: Österreich ist infolge seiner in der Geschichte Europas scharf eingezeichneten geographischen Lage von einer außenpolitischen Wichtigkeit, die nicht nach der Zahl der Quadratkilometer gemessen werden kann. Europa braucht ein gesundes, freies, befriedetes und innerlich zufriedenes Österreich in seinem Staatensystem. Diese Erkenntnis ist heute lebendiger als je. So sind heute alle, die nicht an Europa verzweifeln wollen, Anwälte seiner Sache. Österreich ist nicht allein. Auf seiner Seite stehen das Recht, seine Geltung für ein friedliches Europa und die Vernunft.

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