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Nach der ungarischen Bodenreform

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Die Bodenreform stand in Ungarn seit Jahrzehnten im Vordergrund der agrarpoli-tischen Tagesprobleme. Die Forderung nach ihr wurde bereits vor dem ersten Weltkrieg aufgeworfen, erfuhr während des ersten Weltkrieges, insbesondere durch die schriftstellerische, werbende, mahnende, beschwörende Tätigkeit des Bischofs Ottokar Pro-haszka von Stuhlweißenfourg, eine erhöhte Aktualität und rief nach dem Krieg eine eigene, fortschrittlich und“ sozial gesinnte junge schriftstellerische Garde auf den Plan, die es sich als Verdienst buchen konnte, daß das Verlangen nach der Bodenreform nicht mehr von der Tagesordnung der ungarischen Politik verschwand.

Schon 1916 hatte Bischof Doktor Prohaszka in dem Landesverband der ungarischen Landwirte einen Vorschlag zur Schaffung von Kleinpachtungen auf Großgrundbesitzen vorgelegt, der aber vom Grafen Stephan Tisza zu Fall gebracht wurde. Doch konnte der Laf der Dinge nicht . mehr aufgehalten werden. Der Ruf nach einer Bodenreform wurde immer lauter und verstärkte sich unter dem Einfluß der Jahre 1918 und 1919 in einem Maße, daß die Bethlenregierung sich bereits im Jahre 1920 veranlaßt sah, ein Gesetz, das nach dem Ackerbauminister Nagyatadi genannte: Nagyatader Bodenreformgesetz zu schaffen, kraft dessen an die besitzlosen Bewerber 1,275.548 Katastraljoch Grund (ein Katastraljoch 1200 Geviertmeter) verteilt wurden. Das Ausmaß dieser Reform hat sich bald als ungenügend erwiesen, Nach verschiedenen Korrekturen und Ergänzungen des Nagyatader Gesetzes wurde 1938 ein zweites Gesetz vom Abgeordnetenhaus angenommen, in dem die Verteilung von weiteren 1,632.38t Katastraljoch Ackerboden vorgesehen war. Der zweite Wehkrieg hat aber die Durchführung dieses Gesetzes zum Teil illusorisch gemacht.

Inzwischen war in der Fach- und Tagespresse, wie auch im ungarischen Abgeordnetenhaus, für und gegen die Bodenreform als solche ein leidenschaftlicher Kampf geführt worden, m dem die Vertreter der alten Wirtschaftsordnung nak den Vorkämpfern der neuesten Zeitströmungen die Klinge kreuzten. Die Gegner einer weitausgreif enden Bodenreform mit dem Grafen Julius Kärolyi an der Spitze anerkannten zwar die Notwendigkeit einer gerechteren Verteilung des Grundbesitzes, aber sie machten an Hand statistischen Materials geltend, daß die radikale Abschaffung des Großgrundbesitzes die Mehrproduktion gefährde, der der Vorrang gegenüber Schaffung von neuen Besitz-verhäitnissen gegeben werden müsse: es stehe die Ernährung der Bevölkerung über noch so schönen theoretischen Gedankengängen. Die Befürworter der Bodenreform begegneten diesen Einwendungen mit dem Hinweis, daß die Agrikultur gerade in jenen Ländern am schönsten blühe, in denen der Großgrundbesitz seit Menschengedenken der Vergangenheit angehöre, wie zum Beispiel in Holland, Dänemark und in anderen Ländern; niemandem aber werde es einfallen, zu behaupten, daß die Ernährung der Bevölkerung dieser Länder unzulänglich und bedürftig sei. Übrigens, fügten sie hinzu, werde über das Schicksal der Bodenreform nicht die Mehrproduktion, sondern vielmehr die Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit der sozialen Entwicklung entscheiden, die auf die Dauer auch in Ungarn nicht aufgehalten werden könne. Den Kampf zwischen beiden Fromen bestimmte sdiließlich der Ausgang des Krieges, der über Nacht eine Bodenreform ins Leben rief, die dem Großgrundbesitz in Ungarn völlig ein Ende bereitete. Ob und inwiefern für diese Bodenreform die sozialen Vorbedingungen gegeben waren, soll durch nachstehende kurze Schilderung veranschaulicht werden.

Die landwirtschaftliche Arbeiterschaft Ungarns wies vor dem Krieg folgendes Bild auf:

Es gab landwirtschaftliche Arbeiter ohne Besitz und ohne Pacht samt Familienmitgliedern: 955.621 Seelen, mit Besitz oder Pacht unter einem Katastraljoch 271.767 Seelen, mit Besitz oder Pacht von einem bis fünf Joch 1,070.624 Seelen, Erdarbeiter und landwirtschaftliches Gesinde 650.283 Seelen. Insgesamt 2,948.315 Seelen.Zu dieser Zahl der landwirtschaftlichen Arbeiter, die in Ungarn das landwirtschaftliche Proletariat ausmachten, gesellten sich jene Kleingrundbesitzer, deren Besitz zwischen fünf bis zehn Joch schwankte; ihre Zahl betrug mit den Familienmitgliedern insgesamt 604.157 Seelen. Diese Schicht der Kleinlandwirte stand der Arbeiterschaft näher, als der selbständigen Bauernschaft. Es verdient erwähnt zu werden, daß der Besitz der einzelnen Kleinlandwirte infolge der Bevölkerungszunahme ständig abbrödtelte und so die Zahl der selbständigen Landwirte ab-, und die der besitzlosen zunahm. Die landwirtschaftliche Arbeiterschaft Ungarns machte somit 35 Prozent der Gesamtbevölkerung und 68 Prozent der Agrarbevölkerung aus.

Dieser Masse des landwirtschaftlichen Proletariats stand die Zahl der mittleren und die der Großgrundbesitzer gegenüber. Erstere Gruppe zählte 7383 Besitzer und bildete mit den Familienmitgliedern eine 30.000 Seelen starke Schicht, wogegen die Zahl der Großgrundbesitzer und Großpächter sich blo* auf 526 Familien beschränkte. Der gesamte Besitz dieser zahlenmäßig dünnen Schicht betrug 6,995.000 Katastraljoch und entsprach etwas mehr als einem Drittel der gesamten Ackerbodenfläcbe des Landes. Man muß nicht gerade ein Verfechter der radikalen Boden-eformbestrebungen sein, um der Meinung zu sein, daß diese Besitzverteilung des ungarischen Ackerbodens unsozial war.

Die nach dem Einmarsch der russischen Truppen in Dejjreczin gebildete neue ungarische Regierung erblickte in der endgültigen Lösung der Bodenreform eine ihrer ersten Aufgaben. Es lag in der Natur der Dinge, daß sie mit der Bodenreform nicht nur gesündere und gerechtere agrarsoziale Verhältnisse schaffen, sondern in einem Atemzuge auch die Grundilagen für eine gesellsdiaftliche Umschichtung legen wollte, wie man sie noch vor wenigen Jahren kaum für möglich gehalten hätte. Aus diesem letzteren Grund enthält die Bodenreform zum Teil Verfügungen, die als hart und radikal angesprodien werden müssen. So zum Beispiel die Bestimmung, daß die Grundbesitze von 1000 Joch aufwärts gänzlich und ohne jedes Entgelt zur Verteilung gelangten. Von den Grundbesitzen zwischen 100 bis 1000 Joch konnten dem alten Besitzer 100 bis 300 Joch belassen werden, wenn er sich während des Krieges nichts hatte zuschulden kommen lassen, oder aber sich am nationalen Widerstand gegen die Deutschen, Nationalsozialisten und die ungarischen Pfeilkreuzler verdient gemacht hatte.

Mit der Durchführung der Bodenreform wurde am 19. April 1945 jenseits der Theiß begonnen. Nach Befreiung Transdanubiens wurde die Landverteilung im ganzen Lande fortgesetzt. Trotzdem der Regierung keine finanziellen Mitteln zur Verfügung standen, bewältigte sie die Arbeit, die im Vergleich zu den beiden Bodenreformen der Jahre 1922 und 1938 als eine gewaltige Leistung gewertet werden muß. Die Durchführungsarbeiten der Bodenreform oblagen in den einzelnen Städten und Dörfern den zu diesem Zwecke gebildeten „Bodenreformräten“, die nach Anweisungen der Regierungsvertreter und mit Flilfe von über 400 Feldmessern und Ingenieuren vorgingen. Daß die in gesteigertem Tempo bewerkstelligte Durchführung nicht immer reibungslos und ohne Härte vor sich ging, findet zum guten Teil darin seine Erklärung, daß die Bodenrelorm-räte nicht nur aus Fachmännern, sondern auch aus Politikern bestanden, die sich in ihrer Amtswaltung manchmal nur allzusehr von politischen Gesichtspunkten leiten ließen. Gerade dieser Tage hat sich Ackerbauminister Baranyos freimütig dahin geäußert, daß man die bei der Durchführung der Bodenreform begangenen Fehler korrigieren und jene neuen Besitzer zur übergäbe ihres Grundes an die Gemeindevorstehung zwingen werde, die ihn im vergangenen Jahr nicht oder aber aus Müßigkeit nur mangelhaft bestellt haben.

Die Zahl jener, die unter diese Maßnahme fallen, gab er mit 20 bis 30 Prozent der an der Bodenreform Beteiligten an. Das ist ein sehr bedeutender Prozentsatz.

Nach den amtlichen statistischen Daten wurden im Wege der Durchführung der Bodenreformverordnung über 6 Millionen Katastraljoch an 500.000 Neu -Eigentümer verteilt. Hievon erhielten 90.000 Familien, zumeist gänzlich besitzloses Ackerbaugesinde, durchschnittlich

8 Katastraljoch Grund. 210.000 besitzlose Feldarbeiter wurden pro Familie mit 5 Joch bedacht. Etwa 125.000 Zwergbesitzer erhielten je 4 Katastraljoch zugeteilt. An 1190 diplomierte Landwirte wurden pro Kopf

9 Joch Grund ausgefolgt. Die Söhne kinderreicher Bauernfamilien konnten je 4 Katastraljoch verbuchen. Die Saisonarbeiter der Großgrundbesitze erhielten insgesamt 40.000 Joch Grund. Für Hausplätze waren 60.000 Katastraljoch vorgesehen, die an 144.000 Familien zur Verteilung gelangten. In 996 Fällen wurden besitzlose Kirchengemeinden an der Bodenreform beteiligt. 40.000 Katastraljoch Grund hat man für Schaffung von Mustergütern bereitgehalten. Etwa 100.000 Joch hielt man für spätere Verteilung in Reserve. 73.000 Joch Waldungen kleineren Umfanges gingen in den Besitz der nächstliegenden Dörfer und Städte über, während die größeren Waldungen verstaatlicht wurden. Schließlich sei noch vermerkt, daß auch 306.000 Katastraljoch Wiesen von der Bodenreformverordnung erfaßt wurden, die zumeist in Gemeindebesitz übergingen.

Dies ist das in Zahlen festgehaltene Bild der in der kurzen Zeitspanne von 14 bis 16 Monaten durchgeführten Bodenreform. Man stellt die Frage, ob sie jenes Ziel erreicht hat, das ihr von den Verfechtern der gerechteren Verteilung von Grund und Boden gesteckt wurde. Die Frage kann vorläufig nur bedingt beantwortet werden. Sie konnte ihr Ziel nicht vollinhaltlich erreichen, weil infolge der Kriegsverwüstungen nicht nur den neuen Besitzern, sondern selbst den alt-eingessenen Bauern die nötigen Arbeitspferde, Zugochsen usw. abgingen und ihnen außerdem vielfach auch das übrige Ackerbaugerät fehlte. Dieser Mangel kann nicht über Nacht, sondern nur Schritt für Schritt im Laufe der Jahre ersetzt werden. Vorläufig helfen sich die Bauern gegenseitig aus, um sich recht und schlecht durch die stiefmütterlichen Verhältnisse durchzusdilagen. Außerdem ist die Regierung bestrebt, den an Ackerbaugeräte armen Gegenden Traktoren und andere maschinelle Einrichtungen zur Verfügung zu stellen.

Ein realer Vergleich zwischen der früheren und der heutigen Produktion kann noch nicht angestellt werden; dies wird erst nach Jahren nöglich sein. Soviel kann aber schon heute festgehalten werden, daß jene Theoretiker der Kleinbe:riebe, d'e von der Bodenreform ein Aufblühen der Hühner- und Schweinezucht erwartet hatten, gerechtfertigt wurden. Die Hühnerzucht hat im ganzen Lande einen kaum für möglich gehaltenen Aufschwung genommen. Wenn die ungarische Hauptstadt seit Herbst mit Geflügel reichlich versehen ist, so ist das ausschließlich ein Verdienst der Kleinbauern, für die sich die Hühnerzucht zu einer erheblichen Erwerbsquelle gestaltet hat. Ähnlich, wenn auch nicht im selben Ausmaß, verhält es sich mit der Schweinezucht. Die ' Aussichten der Fettversorgung der ungarischen Städte werden sich nach Beginn der Schweineschlachtuiigen auf dem Lande verbessern. Daß sich neben diesen günstigen Auswirkungen der Bodenreform aber auch der Ausfall widiriger Produkte bemerkbar macht, die nur von Großgrundbesitzern betrieben werden konnten, darf nicht verschwiegen werden.

„Die Bodenreform“ — schließt vielleicht der gründlichste Kenner dieses Problenien-komplexes, der Direktor des Bodenrefor-rates Michael K e r e k seine über die Ergebnisse der Bodenreform verfaßte Studie —, „ist ohneZweifel von geschichtlicher Bedeutung, deren politische, gesellsdiaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen noch nicht übersehen werden können. So viel steht allerdings fest, daß die Bodenreform, die in sich noch kein abgeschlossenes Ganzes darstellt, vorläufig als ein gewaltiger Schritt zur Verwirklichung der Agrardemokratie betrachtet werden muß. Ihre Bedeutung wird erst dann zur vollen Geltung gelangen, wenn die neuen Besitzer, von dem ungarischen Kleinbauerntum organisch erfaßt, sich zu vollwertigen, gesunden und entwiddungs-fähgen Kleinexistenzen entwickeln und sich als solche behaupten. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es aber der Mitarbeit des gesamten ungarischen Bauerntums.“

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