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Politische Amerikakunde

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Die amerikanische Politik. Eine Einführung. Verfassung, Staatsleben und politisches System der Vereinigten Staaten. Von D. W. B r o g a n. A.-J.-Walter-Verlag, Stuttgart-Wien. 448 Seiten. Preis 135 S

Unsere Epoche kennt zwei zentrale Phänomene: die Begegnung Europas und Amerikas und die Spannung zwischen Europa und Amerika auf der einen, Rußland auf der anderen Seite. Die europäischamerikanischen Beziehungen, auf deren Festigkeit der Friede und die Zukunft der westlichen Welt ruhen, zeigen dabei eiiie Unzahl von Reizmomenten, die einfach darauf .zurückzuführen sind, daß die Partner sich nicht wirklich kennen und die Eigengesetzlichkeit der jeweiligen Räume gar nicht oder ungenügend ins Kalkül stellen. Die europäischen Mißverständnisse gegenüber Amerika beruhen dabei im wesentlichen auf zwei Quellen: Erstens scheint die USA dem flüchtigen Besucher als ein fast neues Land ohne Geschichte und Tradition. Zweitens ist er oft geneigt, anzunehmen, Amerika sei in vielem nur ein größeres, moderneres und tatkräftigeres England, während es doch in Wirklichkeit, vor allem in der politischen Struktur, entscheidende Unterschiede gibt. Dabei übersieht man, daß — um nur ein Beispiel zu nennen — die Stellung Eisenhowers der Stellung General Washingtons sehr viel ähnlicher ist als etwa die Stellung Elizabeth II., der Stellung Georg III. und daß die politischen Vorgänge oft genug denen in England völlig entgegengesetzt sind. Von Lincoln erzählt man, daß er einmal im Kabinett abstimmen ließ und das Resultat mit den Worten verkündete: „Sieben Nein-Stimmen, eine Ja-Stimme. Der Antrag ist angenommen.“ Von Lord Melbourne, dem Premier der Königin Viktoria, aber heißt es, daß er im Ministerrat gesagt haben soll: „Es ist gleichgültig, was wir alle sagen, solange wir nur dasselbe sagen.“

Jedes Buch, das unsere Kenntnis über die politische Struktur Amerikas vergrößert, muß daher begrüßt werden, vor allem, wenn es das Zeug in sich hat, eine Breitenwirkung zu erzielen. Die vorliegende Studie hat den Professor der historischen und politischen Wissenschaften an der Universität Cambridge zum Verfasser. Brogan ist einer der wenigen For- icher, die mit der Geschichte des alten wie des neuen Kontinentes gleichermaßen vertraut sind. Es gelingt ihm daher glänzend, ohne Zeit- und Wortverlust die essentiellen Unterschiede herauszuarbeiten. Leider ist dabei, soweit man dies nach der deutschen Ausgabe beurteilen kann, seine Diktion ohne besonderen Glanz; anschauliche und einprägsame Bilder wollen sich dem gelehrten Engländer nicht ohne weiteres einstellen. Dazu kommt die etwas verdrießliche Gewohnheit, Episoden, die den schwierigen Stoff etwas auflockern würden, zwar anzudeuten, aber nicht auf sie einzugehen, als wüßte der Leser da auf alle Fälle Bescheid. Brogan ist recht geneigt, Sätze einzustreuen wie „Die Ermordung Hermann Rosenthals durch den Leutnant Becker von der New-Yorker Polizei hatte knapp vor dem ersten Weltkrieg die Macht Tammanys gebrochen" und sich dann ernsteren Dingen zuzuwenden. Auf die Gefahr hin, mich bloßzustellen, muß ich zugeben, daß ich keine Ahnung habe, wie es sich da mit Leutnant Becker und Rosenthal verhalten hat, ergo der Meinung bin, entweder zuviel oder zuwenig erfahren zu haben. Dies sind indes Detaileinwände gegen eine Arbeit, die grundsätzlich richtig aufgebaut ist und eine Fülle nützlicher Informationen enthält. Brogan bemüht sich zunächst, uns von der Vorstellung des „geschichtslosen Amerikas" zu heilen, indem er darauf hinweist, daß die amerikanische Verfassung des Jahres 1789 die älteste, noch in Kraft stehende, geschriebene Verfassung ist und des weiteren ausführt, welche fast mystische Rolle diese Verfassung auch heute noch spielt. Er beschäftigt sich sodann mit dem Parteiensystem, in dem sich die europäischen Beobachter so schwer zurecht finden, das aber zum Verständnis des politischen Lebens der USA völlig unerläßlich ist. „Der wichtigste Grund aber, warum keine Partei auf Klassenbasis in Amerika Fuß fassen konnte, liegt darin, daß es die Klasseneinteilung der sozialistischen und kommunistischen Theoretiker hier einfach nicht gibt." Dann wendet sich Brogan dem noch immer erkennbaren Einfluß der verschiedenen Rassen zu, die das politische Leben dauernd mitbeeinflussen. Es ist ein Kapitel, in dem ein riesiger Stoff, so gut es geht, zusammengedrängt wurde; allein die Schilderung, welchen Schwierigkeiten die zwar engiischsprechen- den, aber katholischen Iren bei dem Einleben in das amerikanische Volksganze begegneten, könnte Gegenstand einer eigenen Untersuchung sein. Die Analyse der diversen „Parteiapparate“, der sozialen Rolle, die sie ursprünglich spielten, und ihrer späteren Amalgamierung mit der Unterwelt, leitet auf allgemeine Zusammenhänge zwischen „Politik“ und „Moral" über. Ein in Amerika stets aktuelles Thema sind hier sowohl die moralischen als auch die ver brecherischen Impulse von einer oft erstaunlichen Virulenz. Ueber die Parteitage und die seltsamen Modalitäten des Wahlkampfes aber kommt Brogan zu jener Einrichtung, die in unserem Zeitalter noch einmal an die Machtfülle erinnert, die einst die Monarchen besessen haben: an die Einrichtung der Präsidentschaft. Die Legende will es, daß Truman auf seinem Schreibtisch einen Zettel liegen hatte, auf dem zu lesen stand: „The bucket ends here." Damit wäre eine fast königliche Machtfülle äußerst nüchtern Umrissen worden. „To pass the bucket heißt nämlich im amerikanischen Sprachgebrauch eine Verantwortung weiterschieben, eine Entscheidung von sich abzuwälzen, den nächsten mit dem belasten, woran man sich die Finger nicht verbrennen will. Und all das endet in der Tat beim Präsidenten. Niemand schmälert seine Verantwortung; Minister können entlassen werden, wie es ihm beliebt, und der Kongreß kann ihn wohl ärgern, aber nicht stürzen.

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