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Tempo 200 — kein Traum

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Technik — Eisenbahn — Fortschritt: drei Begriffe, die im internationalen Schienenverkehr zusammengehören. Seit ihrer Geburtsstunde mußte die Eisenbahn sich immer rasanter dem Fortschritt der Technik anpassen. Der Wettbewerb mit modernen Verkehrsmitteln, wie dem Flugzeug und dem Auto, zwang die Eisenbahn — seit Stevenson eines der wesentlichsten Verkehrsmittel der Welt —, schneller, moderner und bequemer zu werden.

Im Juni dieses Jahres wurde in Wien ein Symposion für Schnellverkehr bei den Eisenbahnen abgehalten, und schon damals trat es klar zutage: Österreich hinkt im europäischen Schienenrennen gewaltig nach. Während bei den französischen und deutschen Bahnen das Tempo 200 schon jetzt keine Traumzeit mehr ist, pendelt man in Österreich auf Schnellzügen mit 80 bis 100 km Reisegeschwindigkeit und einer Spitze von 120 km pro Stunde durch die Alpenrepublik.

Die gerne gebrauchte Entschuldigung: „Ja, wir sind eben ein bergiges Land mit kurvenreichen Strecken, Steigungen und schwierigem Terrain“ läßt man in der internationalen Fachwelt nicht mehr gelten — denn schon jetzt steht fest, daß 1970 die Schweizer Eisenbahn auf Tempo 160 umschalten wird, obwohl sie mindestens so viel bergiges Land wie Österreich hat. In unserer Heimat wird es dann schon ein großer Fortschritt sein, wenn man auf einigen sogenannten Schnellstrecken mit 140 Stunden kilometern Höchstgeschwindigkeit dahinfährt.

In Deutschland und in Frankreich dagegen verkehren bereits jetzt Züge mlit 180 bis 200 km/h. Längere Tradition, mehr Schnellfahrversuche, all das haben den übrigen europäischen Staaten gegenüber die österreichischen Bundesbahnen einen gewaltigen Vorsprung gewährt.

Um die Jahrhundertwende, zur Zeit der Anfänge elektrischer Zugbeförderung, wurde die „Deutsche Studiengesellschaft für elektrische Schnellbahnen“ gegründet, an der sich die Deutsche Bank, zehn größere elektro- und maschinentechnische Firmen und deren Bankinstitute sowie führende Ingenieure der einschlägigen Fachgebiete der deutschen Eisenbahnverwaltungen beteiligten. Man wollte nicht nur einschlägige technische Fragen prüfen? sondern- die .-rrrht elektrisch betriebenen Fahrzeugen erreichbaren größtmöglichen Geschwindigkeiten ermitteln. Der Studiengesellschaft wurden 1,5 Millionen Mark bewilligt, und für Schnellfahrversuche wurde die damalige Militärbahn Ma- rienfeld-Zossen bei Berlin zur Verfügung gestellt. Diese Strecke war für Schnellfahrten besonders geeignet, weil sie ohne nennenswerte Krümmungen verlief.

Mit einem bestimmten Fahrzeug erreichte man schon im Oktober 1903 210,2 Stundenkilometer. Damit war bewiesen, daß man auch mit 200 und mehr Stundenkilometern auf der Schiene sicher fahren konnte. Mit Höchstgeschwindigkeiten trat dann eine längere Pause bei den Eisenbahnen ein. Erst 1931 erzielte der Deutsche Kruckenberg mit einem Schienenfahrzeug, dem sogenannten „Schienenzepp“, eine Geschwindigkeit von 231 km/h. Aber sein Fahrzeug mit Propellerantrieb war für die tägliche Eisenbahnroutine ungeeignet.

Schon 1933 erregte aber auch ein von dier Deutschen Reichsbahn in Betrieb genommener zweiteiliger Schnelltriebwagen mit dem Namen „Fliegender Hamburger“ großes Aufsehen. Er erreichte Geschwindigkeiten bis zu 175 km/h und war das erste auch für den Personenverkehr brauchbare Fahrzeug.

Auch auf dem Dampflokomotiv-

sektor versuchte man die 200-km/h- Grenze zu erreichen. 1936 gelang es, auf der Strecke Hamburg—Berlin mit an die Dampflok angehängten D-Zugswagen auch hier das Tempo 200 zu überbieten. Noch heute ist diese Maschine vom Typ 05 im Verkehrsmuseum in Nürnberg zu sehen.

Der zweite Weltkrieg und die folgenden Jahre des Wiederaufbaues ließen die Bestrebungen der Eisenbahnen, in höhere Geschwindigkeitsbereiche vorzustoßen, zunächst ruhen. Die Französischen Staatsbahnen führten als erste wieder Schnellfahrversuche durch. 1954 erreichten sie zwischen Dijon und Beaume mit einer normalen elektrischen Lokomotive, die eine aus drei Reisewagen bestehende Anhängerlast hatte, eine Geschwindigkeit von 243 km/h Kaum ein Jahr später, im März 1955, erregten die Franzosen abermals gewaltiges Aufsehen, als sie bei zwei sehr sorgfältig vorbereiteten Versuchsfahrten mit einer vierachsigen und einer sechsachsigen elektrischen Gleichstrom-Lokomotive mit je drei angehängten Reisezugwagen auf der

Strecke Bordeaux—Da kurzzeitig Geschwindigkeiten von 331 km/h erreichten. Damit stellten die Französischen Staatsbahnen wiederum einen Welt-Geschwindigkeitsrekord der Schiene auf, mit dem sie ihren eigenen Rekord vom Vorjahr um 88 km/h und den von Kruckenberg aus dem Jahre 1931 um 100 km/h übertrafen. Sie bewiesen damit, daß die Möglichkeiten der konventionellen Eisenbahn noch lange nicht erschöpft sind.

Während bisher nur Versuchsfahrten zur Erreichung der Höchstgeschwindigkeiten durchgeführt worden waren, wollte man nun dieses Tempo von 200 km/h und darüber für den laufenden Betrieb nutzbar machen. Man wollte der Konkurrenz, die inzwischen im Flug zeug und im Kraftwagen henange- wachsen war, ein attraktives Leistungsangebot hinsichtlich der Fahrzeit entgegensetzen.

Allen voran gingen nun die Japanischen Staatsbahnen, die nach fünf einhalb jähriger Bauzeit am 1. Oktober 1964 die 515 km lange Tokaido-Linie zwischen Tokio und Osaka in Betrieb nahmen. Diese Linie ist für Geschwindigkeiten von 250 km/h ausgebaut, wird jedoch zur Zeit „nur“ mit 210 km/h befahren. Die Tokaido-Linie ist seither die einzige Bahn, die von vorneherein für Geschwindigkeiten über 200 km/h (250 km/h) bewußt gebaut wurde. Bei ihr lagen für ein solches Vorhaben besonders günstige Verhältnisse vor.

Wenn auch die technischen Vor-

aussetzungen zum Schnellstfahren auf der Schiene heute erfüllt sind, so scheitelt die weitgehende Anwendung von Hochgeschwindigkeiten daran, daß alle vorhandenen Eisenbahnstrecken in einer Zeit gebaut wurden, als man in der Praxis noch nicht an Höchstgeschwindigkeiten denken konnte. Die Trassierungselemente lassen kaum irgendwo hohe Geschwindigkeiten zu. Ein betriebsmäßige Steigerung auf 200 km/h und mehr hat aber nur Sinn, wenn die Höchstgeschwindigkeiten auf sehr langen Abschnitten gefahren werden können. Man ist deshalb zu kostspieligen Umbauten und Verbesserungen gezwungen. So könnten etwa 10 Prozent des Streckennetzes der Deutschen Bundesbahn durch Linienverbesserungen für Höchstgeschwindigkeiten eingerichtet werden, das sind etwa 3000 km.

Für die internationale Verkehrsausstellung in München 1965 hatte die Deutsche Bundesbahn die Strecke München—Augsburg für 200 km/h eingerichtet, und Ausstellungsbesucher konnten eine

Schnellstfahrt miterleben. Aber es befinden sich an dieser Strecke noch viele schienengleiche Bahnübergänge, die besondere Sicherheitsmaßnahmen erfordern; die Tokaido-Linie ist völlig niveau- kreuzungsfrei gestaltet. Die Französischen Staatsbahnen fahren ihren Schnellzug „Le Capitole“ auf dem Streckenabschnitt Les Aubrais— Vierzon heute bereits mit einer fahrplanmäßigen Höchstgeschwindigkeit von 200 km/h — trotz Bahnübergängen. Auch bei der Deutschen Bundesbahn gibt es Strecken, besonders im Flachland, die mit geringfügigen Linienverbesserungen auf größeren Längen Höchstgeschwindigkeiten zulassen würden. Aber immer taucht das Problem der Bahnübergänge auf.

Auch in Italien, in der Sowjetunion, in Übersee, in Kanada und den USA — überall wird auf Tempo 200 hingearbeitet. Die britischen Eisenbahnen wollen es mit einer Gasturbinenlokomotive erreichen. Man rechnet nämlich damit, daß bei einer Geschwindigkeit von 250 km/h die Eisenbahn wieder viele Passagiere vom Flugzeug zurückgewinnen könnte, wenn es sich um Städteverbindungen ’auf Strecken von 250 bis 400 km handelt. Denn noch immer hat die Eisenbahn den Vorteil, daß sde von Stadtzentrum zu Stadtzentrum fahren kann.

Das zeigt auch das amerikanische Beispiel. So baut man in den Ballungsräumen bereits wieder Stadt-

schnellbahnen und denkt auch an solche Städteschnellverkehrszüge zwischen New York und Chicago und anderen dicht besiedelten Gebieten und Wirtschaftszentren. Dazu kommt noch, daß der Flugverkehr in den USA bereits so intensiv ist, daß man auch aus diesen Gründen wieder auf die Erde zurückkehren möchte. Schon jetzt verkehrt zwischen Boston und Washington ein Zug mit einer Spitzengeschwindigkeit von 230 km/h und einer durchschnittlichen Reisegeschwindigkeit von 160 km/h.

Der Österreicher dagegen wird noch eine Weile warten müssen, bis er 140 km/h fahren kann, denn derzeit gibt es in Österreich nicht einen einzigen Transeuropaexpreß auf einer längeren Strecke, weil man glaubt, daß ein reiner l.-Klasse-Zug nicht ausgelastet sein würde. Und wenn es irgendwo schneller gehen soll — und sei es nur auf der Wiener Straßenbahn —, kommt dazu noch immer der Arbeitnehmer, der von Rekordzeiten nichts wissen will, wohl aber von Gefahrenzulagen.

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