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Verhungert Biafra endlich?

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Seit dem 5. Juni 1969, als ein Hilfs-ftugzeug des Roten Kreuzes von einer MIG der nigerianischen Streitkräfte abgeschossen wurde, ist die Lebensmittelversorgung in Biafra noch schlechter geworden. Die Versorgungsluftbrücke wurde seit dem 11. Juni 1969 praktisch eingestellt, und der gegenwärtige Stand dieser Hilfslieferungen ist, wie berichtet wird, nur noch ein Zehntel dessen, was im Mai hinübergeflogen wurde. Die „Joint Church Aid“ versucht noch, einen Skelettdienst für die Spitäler und Kliniken aufrechtzuerhalten, aber die Hilfe von außen für die Flüchtlingslager und Versorgungszentren ist nicht mehr möglich. Auf Grund der gegenwärtigen Ernte ist der Nachschub an Kohlehydraten momentan wahrscheinlich nicht ganz katastrophal. Die Beschränkung der Hilfslieferungen hat allerdings eine akute Knappheit an Protein herbeigeführt und als Folge davon Schwächeerscheinungen durch Hunger; und auf jeden Fall haben diese Hilfslieferungen bisher fast drei Millionen Menschen am Leben erhalten.

Eine gezielte Waffe

Weil diese Hungersnot schon so sehr verlängert wurde, sind die Lebensmittelvorräte längst erschöpft, und auch die Ausdauer der meisten Menschen ist erschöpft. Es sind ja bereits halbverhungerte Menschen, die jetzt vor der völligen Aushungerung stehen. Die Auswirkungen der Einstellung der Luftbrücke scheinen daher unmittelbar bevorzustehen. Die Todesrate ist schon hoch genug, aber sie wird noch rapid steigen. Viele von den älteren Menschen sind schon tot und die Todesrate unter

den Müttern und Kindern ist besonders hoch.

Der Brigadier Hassan Katsina, der Stabschef der nigerianischen Armee, sagte kürzlich nach einer Tournee durch die Kriegsgebiete in Lagos: „Meine persönliche Meinung ist, daß ich nicht jemanden füttern würde, den ich bekämpfe.“ Das schließt natürlich Frauen und Kinder mit ein. Ein namhafter Politiker, Chief Awolowo, der ein führendes Mitglied der nigerianischen Exekutive ist, hat vor einigen Tagen argumentiert, daß Aushungerung ein legitt-mes Mittel sei, und behauptet, daß er dagegen sei, mit Schiffen Lebensmittelnachschub zu den Feinden zu bringen. General Gowon hat diese

Behauptung noch nicht zurückgewiesen.

Hier haben wir daher klare Aussagen über ihre Absichten. Wir haben die Fakten, daß 11 Millionen schon tot sind. Wir haben den Abschuß eines Hilfsflugzeuges. Wir haben die frühere willkürliche Bombardierung der Zivillisten und Spitäler in Biafra; von diesen wird immer wieder berichtet. Und wir haben eine erfolgreiche Kampagne, die von russischer Kriegskunst unterstützt wird, um die Nachtflüge zu den Landepisten zu verhindern.

Todesrate: 60 pro Stunde

Wenn man diese Millionen beachtet, vielleicht könnte man dann ihren Tod mit der Zeit verhindern! Wenn die Hilfsflüge nicht wieder aufgenommen werden, dann wird die Todesrate ansteigen. Vielleicht mit einem Durchschnitt von 50.000 pro Monat, obwohl es nach dem, was allgemein berichtet wird, eine zu niedrige Schätzung zu sein scheint.

50.000 pro Monat, das ist mehr als 1500 pro Tag oder zirka 60 pro Stunde. Nicht alle dieser 60 werden Kinder sein, vielleicht nur ein Drittel davon. Vielleicht könnte ein Beispiel die Dringlichkeit dieser Sache deutlich machen. Wenn zum Beispiel Ballspieler auf beiden Seiten so weit kommen, daß sie pro Minute ein Tor schießen; während sie ihre Punkte auf die Tafel schreiben und die Punktezahl steigt, steigt auch die Todesrate in Biafra mit derselben Geschwindigkeit — und dies als Resultat einer gebilligten Politik, die die volle moralische und materielle Unterstützung der britischen Regierung genießt.

Die Last der Verantwortung

Es gibt noch immer eine Gelegenheit, zu helfen. Wenn man diese Angelegenheit nur als das betrachten würde, was sie wirklich ist, nämlich die größte Tragödie oder das größte Verbrechen, für das England in diesem Jahrhundert mitver-

antwortlich war, das ärgste seit der irischen Hungersnot, sollte man jetzt unser ganzes diplomatisches Gewicht, unseren ganzen verbliebenen Einfluß und alle Bemühungen der Regierung aufwenden, um sofort und um jeden Preis wirksame Hilfe in Form von Lebensmitteln für Biafra zu sichern.

Diese Politik steht uns noch immer offen. Sie könnte auf den Widerstand der nigerianischen Bundesregierung stoßen. Sie könnte von Biafra mit Argwohn betrachtet werden, und die Biafraner haben keinen Grund, dem Verhalten oder der Politik der britischen Regierung anders als mit dem vollkommensten Mißtrauen und Argwohn zu begegnen. Aber es gibt die Möglichkeit, einen Korridor für Hilfslieferungen über den Cross River zu eröffnen und dieser Korridor könnte selbst in diesem Augenblick zehntausende Menschenleben retten.

Vor die Wahl zwischen einem vollständigen Bruch mit England und der Eröffnung dieses Korridors gestellt, würde die nigerianische Bundesregierung, die schon früher gewillt schien, ihre Zustimmung zu geben, höchstwahrscheinlich einverstanden sein. Eine weitere große Katastrophe kann vielleicht verhütet werden wenn auch die Hilfsquellen der britischen Regierung für die Bereitstellung von Hilfsgütern herangezogen werden, so daß die richtigen Lebensmittel in ausreichenden Mengen und so schnell wie möglich geliefert werden können. Nur noch eine Hilfaktion, an der sich die Regierung mit allen ihren Möglichkeiten und Hilfsquellen beteiligt — und zwar sofort —, wird imstande sein, die schreckliche Verantwortung, an der wir alle beteiligt sind, zu erleichtern. Das ist auch die Gelegenheit für die nigerianische Regierung, ihre unbarmherzig Politik der Aushungerung einzustellen und sich an der Linderung der Hungersnot zu beteiligen, was das Urteil der Welt stark beeinflussen würde.

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