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Kolonisiert, füsiliert

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Auf einem Gebiet von der Größe Kärntens sind mehr als zehn Millionen Ibos zusammengepfercht, was mehr als dem 20fachen der karanta- nischen Einwohnerzahl entspricht Die nigerianischen Bundestruppen haben bereits drei Viertel des ursprünglichen Staatsgebietes von Biafra erobert. Die Einnahme der letzten Stadt ist nur noch eine Frage von Tagen. Ihre wirksamsten Kampfmittel bilden nicht die Waffen britischen und sowjetischen Ursprungs: unter dem Titel der Blok- kade ist der Hungertod Nigerias erfolgreichste „Waffengattung“. Im Londoner Parlament wurde mit entsetzlicher Sachlichkeit die tägliche „Todesrate“ zu ergründen gesucht; Diskussionen entflammen, ob die Skelette von mehr als zehntausend auf qualvollste Art und Weise verendeter Menschen dem nigerianischen „Einheitsstaat“ rückgegliedert werden.

Wo ertönen da die Stimmen eines

Sir Bertrand Russell, eines Jean- Paul Sartre, die sich Ende November 1967 vor dem Kopenhagener „Philosophentribunal“ nicht scheuten, die USA wegen Völkermordes in Vietnam zu verurteilen? Zu diesem Zeitpunkt waren die Zahlen des unter der Patronanz Großbritanniens erfolgten ersten Pogroms bereits bekannt: 30.000 Tote und zwei Millionen Ibo-Flüchtlinge im Zusammenhang mit der Ermordung des damaligen Staatschefs Nigerias, des Ibo-Generalmajors Ironsi, im Jahre 1966 reichten weder für Schlagzeilen in der Weltpresse noch für das Engagement gewisser Kreise von Philosophen, die, wie der Wiener Philosophenkongreß erst jüngst wieder zeigte, eher als Handlanger politischer Ideologien denn als Freunde der Weisheit zu apostrophieren sind.

Das Fundament zum schrecklichsten Genozid unseres Jahrhunderts seit der Judenvemichtung im Dritten Reich wurde bereits während des ersten Weltkrieges gelegt; unter Ge- neralgouyemeur JJord Lugard wurden, vorwiegend aus finanztechnischen Erwägungen, die drei Kolonien Nord-, Süd- und Ostnigerien zur einheitlichen Kronkolonie Nigeria zusammengefaßt und damit wieder einmal ein künstliches Staatsgebilde ohne Rücksicht auf ethnische, religiöse und kulturelle Unterschiede geschaffen. Die Namensgebung erfolgte ebenso einfach wie die Kreation des administrativen Konglomerates: die Freundin Lord Lugards, eine Korrespondentin der „Time“, taufte das glücklose Gebilde nach einer der wenigen Gemeinsamkeiten, die es aufweist, „Nigeria“ — Umgebung des Niger.

Seit jeher war der Osten des Lan

des das Sorgenkind der kolonisationsfreudigen Briten gewesen. Nachdem diese fast 200 Jahre hindurch gemeinsam mit den Portugiesen, die 1472 das Küstengebiet entdeckt hatten, beim Sklavenhandel ihr kommerzielles Talent beweisen konnten, besetzten sie 1861 Lagos und erschlossen in den folgenden Jahren das Hinterland der späteren Hauptstadt. Relativ einfach gestaltete sich die „Befriedigung“ des Südwestens und Nordens des Landes: im Süden genügte es, die einzelnen Gottkönige

und Stammeshäuptlinge der Yorubas gefangenzunehmen, im Norden sicherte der gleiche Vorgang in den cäsaropapistisch regierten Emiraten der Haussas und Fulbe die nötige Einflußnahme auf die Eingeborenen. Viel mühsamer erfolgte dagegen die Unterwerfung der Ibos im Osten. Diese waren in etwa 200 kleinen Dorfgemeinschaften organisiert, deren Führung dem Ältestenrat oblag. Hier dauerte es immerhin bis 1918, ehe die Briten auch das letzte Ibo-Dorf eingenommen hatten.

Der religiöse Hintergrund

Die Missionstätigkeit schuf weitere Unterschiede. Während im Süden und Osten die Christianisierung und Hand in Hand damit eine weitverzweigte Schulorganisation große Erfolge aufweisen konnten, standen die mohammedanischen Haussas Missio-

naren und Schulen skeptisch gegenüber. Ein starkes Bildungsgefälle war die Folge und gleichzeitig die Hauptursache für die Unruhen, die den aus rund 200 Volksgruppen zusamengewürfelten 56-Millionen- „Einheitsstaat“ bald nach seiner Unabhängigkeit im Jahre 1960 erschütterten.

Ein primitiv angelegter Wahlschwindel war das Startsignal für Putsch und Gegenputsch. Schien endlich unter dem Ibo-Generalmajor Ironsi eine Regierung mit Aussicht

auf längere Lebensdauer gebildet, mengte sich das um seinen wirtschaftlichen Einfluß bangende ehemalige Mutterland ein und beschuldigte die Ibos, auf Grund ihres Bildungsübergewichtes die anderen Stämme zu unterjochen. Dabei setzte

sich die damalige Regierung aus acht Vertretern des Nordens, sieben des mittleren Westens, fünf des Westens und nur drei der Ostregion zusammen! Die Saat der Gewalt, von Versprechungen genährt, blühte auf. Der Haussaputsch kostete 281 Ibo-Offi- zieren das Leben und war der Auftakt zu einem Pogrom größten Stils. Die Ibos flüchteten in den Osten des Landes.

Union-Jack wird Leichentuch

Noch einmal gab es einen Funken

Hoffnung für den chaotisch gewordenen Staat: Oberstleutnant Ojukwu brachte 1967 in Ghana eine Konferenz aller Militärgouvemeure der einzelnen Regionen zustande. Einer von vielen Beschlüssen war es, bei internen politischen Auseinandersetzungen auf jedwede Gewaltanwendung verzichten zu wollen. Die politische Sezession der Ibos in Biafra schien erfolgreich zu verlaufen. Leider erwies sich wieder der mephistophelische Rat Großbritanniens ausschlaggebend, das Nigerias Staatschef Gowon aufforderte, die Beschlüsse einfach zu negieren. Der Feldzug begann für Lagos nicht gerade vielversprechend. Doch Wilsons Unterstützung brachte bald die Wende

Trotz einer unobjektiven Berichterstattung der britischen Presse steht heute außer Zweifel, daß die nigerianischen Bundestruppen gegen alle Punkte des Art. 3 des Genfer Abkommens 1949 zum Schutze der Kriegsopfer in grausamster Weise verstoßen haben. Sanktionen sind nicht einmal angedroht worden, wie überhaupt dieser tragische Ausrottungsprozeß aus folgenden Gründen die Weltöffentlichkeit kaum berührt:

• Er ist lokaler Natur und gehört in Afrika ohnehin zum täglichen Brot.

• Unser Interesse gilt Krisenherden mit Eskalationsgefahr, da das Hemd bekanntlich immer noch näher als der Rock ist

• Er läßt sich politisch und publizistisch nicht so dankbar auswerten wie die Aktionen der beiden Supermächte in Vietnam oder der CSSR.

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