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Die Flucht vor Gott

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Der Mensch ist zu allen Zeiten vor Gott geflohen, aber das unterscheidet die Flucht heute vor jeder anderen: der Glaube war früher das Allgemeine, er war vor dem einzelnen vorhanden, es war eine objektive Welt des Glaubens da; die Flucht hingegen spielte sich nur im einzelnen Menschen ab, sie kam erst dadurch zustande, daß der einzelne sich durch einen Akt der Entscheidung von der Welt des Glaubens löste, es mußte sich einer erst seine Flucht schaffen, wenn er fliehen wollte. Heute ist es umgekehrt: der Glaube als objektive äußere Welt ist zerstört, der einzelne muß in jedem Augenblick sich immer von neuem durch den Akt der Entscheidung den Glauben schaffen, indem er sich von der Welt der Flucht löst-, denn die Flucht, nicht mehr der Glaube, ist heute als eine objektive Welt da, und jede Situation, in die der Mensch kommen kann, ist von vornherein, ohne daß der Mensch sie erst dazu macht, eine Situation der Flucht, die selbstverständlich ist: alles in der Welt ist nur in der Form der Flucht vorhanden. Wohl ist es möglich, jede Situation der Flucht durch die Entscheidung in die entsprechende Situation des Glaubens zu verwandeln; aber es ist schwer. Und wenn es auch dem einzelnen gelingt, sich von der Welt der Flucht loszureißen in den Glauben, so gelingt es doch nur für ihn, den einzelnen; die Welt der Flucht besteht unabhängig von seiner Entscheidung.

Außerhalb der Flucht scheint es keine Menschen zu geben, der Mensch existiert nur in dem Maße, als er an der Flucht teilhat. Ein Mensch lebt, und indem er lebt, flieht er. Leben und Fliehen sind eines. Der einzelne ist zuerst als Fliehender da; dann, erst durch Reflexion, entdeeckt er, daß es auch so etwas wie ein Nichtfliehendes geben könnte. Die Flucht ist so zu ihm gehörig, daß es scheint, sie sei das Normale und nicht das Außergewöhnliche. Wenn die Flucht eine Angelegenheit für sich ist, unabhängig vom Menschen, dann fragt man nicht mehr, warum man flieht, man vergißt, daß man vor Gott flieht.

Alle Auseinandersetzung, die in der Welt des Glaubens im Innern des Menschen stattfand, alles innere Plin und Her, ob er fliehen soll oder nicht, ist übertragen in ein äußeres Hin und Her, in die äußere Dynamis der Flucht. Die Flucht hat sich selbständig gemacht, es ist, als sei sie nie mit dem Innern des Menschen in Berührung gewesen, sie ist ein dinghaftes Gebilde geworden und hat jetzt ihre eigenen Gesetze. So autonom ist sie, daß geflohen wird, auch wenn der Mensch vergäße zu fliehen. Es ist kein besonderer Akt mehr notwendig, daß der Mensch vor Gott flieht, es gibt überhaupt keine Pause mehr nach einer Situation der Flucht, keinen Wechsel mehr zwischen Fliehen und Nichtfliehen, die Flucht ist dauernd da und so selbstverständlich wie die Luft, so selbstverständlich, daß es ist, als hätte es niemals etwas anderes gegeben als sie: Flucht von allem Anfang an, am Anfang war die Flucht. In der Welt des Glaubens wird der Mensch geboren, daß er sich verwirkliche im Glauben, die Geburt ist der Anfang der Verwirklichung; in der Welt der Flucht ist sie das Ende der Verwirklichung, alles was Verwirklichung ist, scheint rückwärts, hinter der Geburt, zu liegen — jetzt, an der Geburt, beginnt das Neue, die Flucht: die Geburt ist der Absprung in die Flucht.

Wo eine Gefahr ist, daß das Gebilde der Flucht auf den Geist, von dem es sich losgerissen hat, stoßen könnte, beginnt sofort eine noch eiligere Flucht. Das ist die Dämonie des Gebildes: es weiß im Grunde, daß es sich nur bewegen kann durch die Kraft, die dem Innern des Menschen gehört und die es in äußere Kraft verwandelt hat und so sehr verwandelt hat, daß man die Herkunft aus dem Innern nicht mehr erkennt, es weiß das im Grunde, und je mehr es das weiß, desto heftiger flieht es, und je heftiger es flieht, desto deutlicher spürt es seine Herkunft, und desto größer wird die Angst, wieder zurückgetrieben zu werden ins Innere und gegenübergestellt zu werden dem Geist, und je größer die Angst wird, desto mehr usurpiert es alles und nimmt zu an Umfang. Jetzt hat sich der Mensch nicht mehr nach dem Gesetz seines Innern zu verantworten, daß er flieht; es ist nicht mehr das Innere da, sondern nur noch außen die ungeheure Masse der Flucht. Dieses Gebilde nimmt jetzt zu, nicht weil der Mensch heftiger flieht, es nimmt zu, weil es groß ist, weil das Umfangreiche alles zu sich heranzieht. Nicht mehr der Mensch bestimmt, wie geflohen wird, sondern das Gebilde der Flucht. Es ist jetzt gleichgültig, was dieses Gebilde darstellt, ob eine Flucht oder ob sonst etwas; nur noch seine Masse gilt, der Inhalt gilt nur insofern, als er dazu dient, die Masse zu vergrößern: alles Qualitative ist in Quantitatives umgesetzt, ins Quantitative entwichen. Das Gebilde wirkt nur als Umfang, als Masse, als Quantität, und nach dem Gesetz der Quantität existiert es.

Der Mensch flieht, aber über ihm ist etwas, das noch mehr flieht als er, und dem gegenüber die persönliche Flucht armselig erscheint. Darum kümmert er sich gar nicht um sie. Auch das hat das große Gebilde en eicht: dem Menschen soll es scheinen, daß die persönliche Flucht gar nichts mehr gelte.

Es ist mehr Flucht da, als geflohen werden kann. Die Menschen können das Maß von Flucht nicht aufbrauchen, das in dem Gebilde vorhanden ist: nie aufhörende Flucht. Der Mensch legt sich nieder zum Schlaf — aber sogar durch Traum und Schlaf geht sie weiter, und wenn sie den Morgen erreicht, so liegt nicht die Nacht hinter ihr zurück, sondern ein Tunnel, den sie durchfloh. Die ganze Welt ist besetzt von ihr. Manchmal scheint sie verschwunden, aber sie hat sich nur einen Augenblick versenkt in den Boden, auch der Boden gehört ihr, unterirdisch kriecht sie weiter — und plötzlich springt es auf, wie neue Quellen der Flucht. Die ganze Welt gehört ihr.

Der ganze Raum zwischen Gott und dem Menschen ist ausgefüllt mit der Flucht. Nicht das leere Nichts ist mehr zwischen Gott und dem Menschen, sondern das volle Nichts, das Gebilde der Flucht.

Noch ist nicht alles mitgerissen in der Flucht. Aber eben dies ist ihr größter Triumph: sie ist wie ein Herr, der nicht alles in seinen Dienst zwingt, weil er alles jeden Augenblick hineinzwingen kann. Es ist eine Sicherheit in der Flucht, daß alles ihr, sobald sie will, Untertan wird. Das Furchtbare also ist: der Mensch ist nicht einmal mehr nötig für die Flucht, es ist gar nicht mehr seine Flucht, sondern irgend etwas anderes kann für ihn fliehen, oder er selber kann etwas anderes schicken, das für ihn flieht. Er ist eliminiert, hinausgeworfen aus der eigenen Flucht. Der Mensch auf der Flucht vor Gott, der Mensch, der in jedem Augenblick immer von neuem fliehen muß, weil er in jedem Augenblick von Gott wieder eingeholt wird, der Mensch, geflohen aus seiner eigenen Flucht — wo ist er, der Mensch?

Aus dem Buch „Die Flucht vor Gott“ mit Bewilligung des Eugen-Rentsch-Verlages

Zürich.

Hilfe in ihrem Gebetbuch, Zimburgis versucht über dem reichen Faltenwurf der Gefühle das Gleichmaß ihrer Schönheit zu bewahren. Elisabeth aus Tiroler Geschlecht ist schmerzergeben, das geschriebene Wort vermag sie nicht zu trösten.

Die unglückliche Königin von Kastilien, Johanna, hat alle Tränen schon verschenkt, ein Gedanke hält sie noch aufrecht: nur die Liebe kann alles gewinnen, nur die Liebe kann das Gedächtnis ewig machen und über die Sterblichkeit hin-wegheben. Mit ihm tut sie noch einen knappen Schritt vorwärts auf das Grab zu, dann bleibt sie stehen ohne Teilnahme, ohne Blick für die nächste Nähe.

Weihrauchwolken schieben sich wie Geister in weißen Gewändern durch die Leidtragenden, schweben um die gesenkten Häupter und Um den Sarg, neigen sich, heben sich und entgleiten.

Wie das Klopfen klagender Schläge kommen die Silben von Gebeten daher, von allen Seiten in stockenden, stoßenden kleinen Wellen strömen sie zu und wachsen. Nun werden auch die Lippenträger der frommen Sprüche sichtbar, von der einen Seite naht Ulricht, ein Kämpfer im Harnisch, von der anderen Seite naht, das Gebetbuch in Händen, Ermelindis, wie Himmelsleitern liegen ihr die Zöpfe um den Kopf.

Ihnen folgt Leonhard, der Beschützer der Gefangenen im Irdischen, und die bäuerliche Tarsitia, sie soll es vermögen, geschwundene Lebenskräfte zurückzurufen.

Hinter ihnen schreiten in Andacht Oda und Waldetrudis, die Wohltäterinnen der Armen. Nach ihnen tritt der bekehrte Guido heran und Jos, der Pilger, dem die Bereitschaft die Wege verkürzt. Immer dichter wird das Gefolge der Heiligen, Venantius mit dem Löwen und der Märtyrer Stephanus sind unter ihnen, Rotlandus stößt in sein Horn wie ein Sieger, Clodoveus schwingt sein liliengeschmücktes Fähnchen, mit Pharahildis ziehen singende Vogelscharen ein.

Die Gebete steigen und ordnen sich, sie werden zum Gesang, und der Gesang verklärt sich durch kraftvolle Sicherheit. Neue Gestalten kommen heran, von stoffreichen Gewändern umbunden, wie Stufen umgliedern sie das Grab, ihr Wesen ist rätselhaft und fern, wie die Kaiser zerschlagener Jahrhunderte ragen sie gleich Blöcken aus der trauernden Versammlung hervor.

Nun erwacht eine Glocke der Hofkirche, sie ruft die nächste, sie rufen zusammen der nächsten Kirche Glocken, sie stürzen wie Sturm herab, sie zer-blasen die Fackellichter, sie übertönen die Lieder der Klage und der Hoffnung, sie zerdrücken und zerbröseln jedes Bild mit einer gierigen posaunenden Dunkelheit.

Es ist das Totengeläute eines Kaiserreiches.

Aus dem Buche „Unser Land mit unsern Augen“ von L. VV. Rodiowansk,, Verlag der österreichisdien Buchgemeinschaft, Wien.

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