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Wie ein Mensch wird

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DER APFEL IM DUNKELN. Roman von Ciarice Lispeetor. Ans dem Portugiesischen von Curt Meyer-Clason. Claassen-Verlag, Hamburg, 1964. 301 Selten, Leinen. Preis 22 DM. - POLFAHRT. Roman von Hans N e r t h. Claassen-Verlag, Hamburg, 1965. 220 Selten, Leinen. Preis 14.80 DM.

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DER APFEL IM DUNKELN. Roman von Ciarice Lispeetor. Ans dem Portugiesischen von Curt Meyer-Clason. Claassen-Verlag, Hamburg, 1964. 301 Selten, Leinen. Preis 22 DM. - POLFAHRT. Roman von Hans N e r t h. Claassen-Verlag, Hamburg, 1965. 220 Selten, Leinen. Preis 14.80 DM.

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Ciarice Lispeetor, deren Eltern als russische Emigranten nach Brasilien kamen, wird in Südamerika als bedeutende Vertreterin der modernen Literatur geschätzt. Ihr erster ins Deutsche übersetzter Roman, „Der Apfel im Dunkeln“, fordert dem Leser einige Mühe und Geduld ab, aber das interessante Thema lohnt den Einsatz. Es geht hier um die „Wiedergeburt“ eines Menschen, um den Versuch, ein durch eigene Schuld vertanes und verlorenes Leben neu zu gründen, „damit es die Größe eines Schicksals annimmt“. Ein Versuch, der freilich an einem extremen Einzelfall demonstriert wird, und dessen Lösung fragwürdig erscheint.

Die äußere Handlung des Romans ist arm an Ereignissen; seelische Erfahrungen und Geschehnisse stehen im Mittelpunkt, die in inneren Mo-nolgen des Helden erörtert werden. Wir begegnen einem Mann auf der Flucht, der seine Frau ermordet hat, weil er ein Leben der“,„Imitation der anderen“ nicht mehr ertragen wollte. „Sein Verbrechen war die erste freiwillige Regung seines Lebens gewesen.“ Wie aber nun weiter existieren nach einer Tat, die Ausschluß aus der menschlichen Gemeinschaft bedeutet? Angst, Verstörtheit und Einsamkeit begleiten den Mörder auf seiner Flucht und treiben ihn in neue Beziehungen, Er wendet sich den Steinen zu, später den Pflanzen und Tieren, und diese Erfahrungen mit den einfachen Dingen und Wesen, ja die Identifizierung mit ihnen, sind Stufen einer neuen Menschwerdung — „eine große innere Verwirklichung“. Sie bringt neue Aufgaben für Martim mit sich: bewußte Erkenntnis und Annahme seiner Schuld, das Gegenüber mit Gott, und schließlich zaghafte neue Kontakte mit den Menschen. Auf der Fazenda, dem einstweiligen Endpunkt der Flucht, wird die lebensmüde Ermelinda Martims Geliebte. Donna Vitöria aber, von Martim aus ihrer banalen Sicherheit aufgescheucht, in der Begegnung mit ihm Ungelebtes und Versäumtes ihres Daseins erkennend, verrät ihn den Behörden, um weiterhin ungestört und unangefochten leben zu können.

Martim aber, der aus dem Gefängnis des Konformismus die Freiheit suchte, der einen Mord auf sich nahm, um „ein Mensch zu werden“, erkennt in dem makabren Schlußkapitel seinen Irrweg und flüchtet sich in einen neuen Trugschluß, hat nur noch den Wunsch, wie „die anderen“ zu sein, sich ihren Spielregeln anzupassen, also genau das, wovon er wegstrebte. Es ist der Autorin nur unvollkommen gelungen, ihren großen Vorwurf, „wie ein Mensch wird“, künstlerisch zu bewältigen. Sie beherrscht die Sprache der Bilder und Zeichen — es gibt großartige Beispiele dafür in ihrem Roman —, meistens aber werden sie überwuchert von Reflexionen und inneren Monologen des Mannes Martim, die sich im Abstrakten verlieren. Zur Bewältigung des schweren Lebens führen sie nicht. In Martims Entwicklung fehlen die Spuren echten Reifens, es sei denn, man sähe sie in der Erkenntnis seiner Unzulänglichkeit, die auf Erbarmen angewiesen ist.

Noch krausere Wege führt Hans Nerth seine Leser in dem Roman „Polfahrt“. Sechs Männer und eine Frau finden sich zu einer Nordpolexpedition zusammen, nicht nur, um wissenschaftlicher Forschungen oder anderer sinnvoller Ziele willen, sondern aus Abenteuerlust, aus Langeweile und Überdruß am Leben. Einigen genügen die gewöhnlichen Vergnügungen und Ausschweifungen nicht mehr — es muß ein neuer kräftigerer Nervenkitzel sein. Andere wollen sich quälenden Erfahrungen oder einer Schuld nicht stellen. Sie alle sind auf der Flucht vor der Verantwortung und vor sich selbst und nähren doch die geheime Hoffnung, sich vielleicht durch das außergewöhnliche Unternehmen zu finden. Aber die Expedition ist von Anbeginn zum Scheitern verdammt, trotz der modernsten Ausrüstung der Teilnehmer. Die Menschen verhindern das Gelingen, zeigen sich den unausbleiblichen Strapazen und Entbehrungen nicht gewachsen. Keiner von ihnen besteht die selbstgewählte Probe; vier gehen elend zugrunde, die anderen kehren als Wracks ins Leben zurück, ohne Anzeichen, es hinfort besser bewältigen zu können als vor der wahnwitzigen Expedition. Die Frage der Reporter an die drei Uberlebenden: „Welchen Sinn hart Ihre Reise?“ bleibt ohne Antwort — sie hatte keinen Sinn.

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